Bulletin Nr. 50; September 2006

«Aus den Augen, aus dem Sinn» – Gassenhatz statt Prävention

Das Berner Fixerzelt

Seit Monaten herrschen vor der Reitschule in Bern dramatische Zustände: DealerInnen, Junkies, HängerInnen, der Drogenstrich und einige Sozialdarwinisten prägen das Umfeld. Ein Fixerzelt soll für Entlastung sorgen. Doch die städtische Obrigkeit zögert.


Die Schliessung von Hanfläden und Gassenkneipen sowie die gefährliche Vermischung von Gras- und Kokainhandel und -konsum führen in Bern zu einer explosiven Stimmung. Nicht zum ersten Mal: Schon 2003 herrschte eine ähnlich angespannte Situation, die sich meist in Strassenschlachten mit der Polizei entlud.
Gründe für die Situation bei der Reitschule gibt es viele: Die Repression in der Innenstadt gegen Junkies, Alkies oder Punks ist das eine – pro Jahr gibt es durchschnittlich 500 Wegweisungsverfügungen und 1500 Bussen wegen deren Missachtung. Hinzu kommen die Schliessungen von Gassenkneipen in Quartieren und in der Innenstadt sowie die Situation bei der benachbarten Drogenanlaufstelle am Kleeplatz.
Da die Stadt Thun seit ein paar Monaten die lokale Drogenszene mit Polizei und Wegweisungen aus der Innenstadt vertreibt, weichen Drogenabhängige aus dem Oberland vermehrt nach Bern aus, wo sich neben Biel die einzige Drogenanlaufstelle des Kantons befindet. Dadurch wollen nun rund 200 statt etwa 150 Menschen die sowieso schon überlastete Anlaufstelle benützen (durchschnittlich mögliche Betreuungszeit pro BenützerIn im Jahr 2005: 75 Sekunden). Die Wartezeiten für einen Knall im Fixerraum steigen von 20 Minuten auf über eine Stunde. Dies veranlasst viele Junkies, ihren Knall am Aarehang auf beiden Seiten der Lorrainebrücke, in Nischen am Bollwerk oder unter der Eisenbahnbrücke vor der Reitschule zu machen. Wegweisungen am Aarehang und beim Bollwerk verschärfen die Situation unter der Eisenbahnbrücke. Eine offene Drogenszene entsteht – etwas, das es seit der Räumung des Kocherparkes 1992 in Bern offiziell gar nicht mehr gibt beziehungsweise geben darf.

Unzumutbare Zustände
Am 6. August 2006 reagieren die gassennahen Institutionen (GI –Gassenküche SchülerInnenkoordination, Kirchliche Gassenarbeit, Elternvereinigung drogenabhängiger Jugendlicher, Copwatch u. a.) mit einer dreitägigen Fixerzelt-Aktion auf die Zustände in der Berner Drogenszene. In einer Medienmitteilung schreiben sie:
«Die Zustände für DrogenkonsumentInnen in der Stadt Bern sind unzumutbar und gefährlich. In der Anlaufstelle kann zwar mit sterilen Materialien und kontrolliert gefixt werden, auf der Gasse zeigt sich jedoch ein ganz anderes Bild. Unhygienische Zustände, riskante Konsumpraktiken und Gewalt sind an der Tagesordnung. So können durch den Austausch von Spritzen zum Beispiel Krankheiten innert Kürze verbreitet werden. Schlafplatz ist zugleich Toilette, Ess- und Fixplatz. Die offizielle Anlaufstelle des Contact ist chronisch überlastet, die Öffnungszeiten sind nicht den Bedürfnissen angepasst, ausserkantonale Drogenkonsumierende haben keinen Zugang zur Einrichtung. Die städtische Drogenpolitik unternimmt keine Anstrengungen zur Verbesserung der Lage. Nach wie vor wird versucht, vor allem mit repressiven Mitteln das Problem zu lösen: FixerInnen werden von Ort zu Ort gehetzt – immer schön nach dem Motto: ’Aus den Augen, aus dem Sinn.’Wenn sich die Stadt nicht in der Lage fühlt, Lösungsvorschläge zu machen, sehen wir uns gezwungen, selber eine Massnahme gegen die Missstände zu ergreifen. Aus diesem Grund haben wir heute zum ersten Mal für vier Stunden ein FixerInnen-Zelt aufgebaut. Wir bieten die Möglichkeit, Drogen unter sauberen Voraussetzungen zu konsumieren. Das heisst, wir bieten den DrogenkonsumentInnen steriles Injektionsmaterial und einige Stunden Ruhe vor der Gassenhatz und den Blicken der Passanten.

Wir fordern von der Stadt:

«Gesundheitsprävention ist wie eine Zahnbürste»
Neben ihrer jahrelangen Praxis mit widerständigen drogenpolitischen Ansätzen werden die GI wohl auch von einem Spruch auf der Homepage von Sozialdirektorin Edith Olibet (SP) inspiriert:
«Gesundheitsprävention ist wie eine Zahnbürste: Sie ist billig, verlangt aber Beharrlichkeit. Das Verhindern ist bedeutend billiger als das Reparieren von Schäden. Eigentlich eine alte Weisheit, für die Mann und Frau heute aber immer noch kämpfen muss. Meine Unterstützung hat sie.»
Im Gegensatz zur Polizei, welche die Aktion an den ersten beiden Tagen nur mit Knurren und nach längeren Verhandlungen toleriert und den Abbau der Zelte jeweils mit einem Grossaufgebot von 30 bis 40 Grenadieren in Vollmontur überwacht, löst das Fixerzeltprojekt in Berns Chefbeamten-Szene wahre Begeisterungsstürme aus. An einer Sitzung (Stadt-Reitschule-Gassennahe Institutionen-Anlaufstelle Contact) zum Thema Drogenszene vom 8. August 2006 begrüssen diese das Fixerzeltprojekt, stirnrunzeln wegen dem Standort Kleeplatz, schlagen stattdessen die gegenüberliegende (reitschulnahe) Schützenmatte (Parkplätze, geschlossene WCs oder altes Fahrlehrschulhaus) vor und strahlen vor Standort-Abklärungs-Tatendrang. Die obrigkeitliche Solidarität mit den Junkies unter der Brücke wird belohnt: Die GI stellen das Fixerzelt Sozialdirektorin Olibet (SP) zur Verfügung, damit sie angesichts der obrigkeitlich bejahten Notwendigkeit zusammen mit ihren engagierten Chefbeamten was Gutes tun könne. Im «Beipackzettel» zum Zelt schreiben sie:
«Sehr geehrte Frau Olibet
Mit unserem FixerInnen-Zelt auf dem Kleeplatz haben wir während den letzten drei Abenden gezeigt, dass mensch mit einfachen Mitteln niederschwellig Plätze für einen sauberen und hygienischen Drogenkonsum anbieten kann.
Von Seiten der KonsumentInnen konnten wir in Erfahrung bringen, dass solche Plätze dringend nötig wären. Der offene Drogenkonsum, beispielsweise unter der Brücke vor der Reitschule, birgt aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse sowie den unhygienischen Bedingungen ein grosses gesundheitliches Risiko und Komplikationen für die KonsumentInnen.
Es ist jedoch nicht die Aufgabe von uns gassennahen Institutionen eine solche Anlaufstelle zu betreiben. Es ist viel mehr an der Stadt, die sowohl den Auftrag als auch die Mittel dafür hat, diese Aufgabe wahrzunehmen.
Damit die Stadt diese Aufgabe umgehend wahrnehmen kann, übergeben wir Ihnen hiermit leihweise unser Zelt bis die neuen Plätze in der Contact-Anlaufstelle geschaffen sind. Falls die versprochenen Plätze nicht innert nützlicher Frist geschaffen werden, fordern wir unser Zelt umgehend zurück und behalten uns vor, weitere Zeltaktionen durchzuführen.»
Eine offene Drogenszene?
Die Existenz einer offenen Drogenszene wird von der Stadt nach wie vor konsequent geleugnet. Edith Olibet antwortet auf die Frage des «Bund» vom 8. August 2006, ob in Bern eine neue offene Drogenszene drohe: «Nein, sicher nicht. Der Berner Gemeinderat will das auch verhindern.» Und zur Frage, ob der GI-Vorwurf stimme, die Stadt setze nur auf Repression und hetze die Fixer herum: «Das ist mir nicht bekannt. Wenn es Ansammlungen von Drogensüchtigen gibt, dann muss die Polizei eingreifen, das ist so. Denn, noch einmal, die Stadt Bern will keine offene Drogenszene mehr.»
Ausser, sie ist vor der Reitschule? Könnte man meinen, wenn man die Aussagen von Polizeidirektorin Barbara Hayoz (FDP) im Regionaljournal vom 10. August 2006 hört:
«Ich stelle nicht fest, dass wir jetzt bei der Polizei mehr Anrufe haben. In dem Zusammenhang, dass die sagen, jetzt räumt doch mal auf, schaut doch. Weil sie eben nicht in der Innenstadt sind, sie sind eben an Orten wie dem Vorplatz der Reithalle oder der Blutturmtreppe, wo natürlich nicht unbedingt die Passantenströme durchziehen, die in die Stadt kommen, um Einkäufe zu tätigen oder zu flanieren. Also, von dem her habe ich nicht das Gefühl, dass wir einen grossen Konflikt haben, zwischen den Besuchenden, den Leuten, die in der Stadt shoppen oder den Touristen und den Drogenkonsumierenden.»
Und später, sich «einsichtig» zeigend: «Sie können heute mit Präsenzmarkieren die Drogenabhängigen in die nächste Ecke jagen, und von der nächsten in die übernächste Ecke. Das kann keine Lösung sein für die Polizei und aber sicher auch nicht für die Drogenabhängigen.»Merkwürdig ist, dass Hayoz nach Jahren der Gassenhatz genau dann zu dieser Einsicht gelangt, als sich die offene Drogenszene vor der Reitschule etabliert. Doch noch schlimmer und skandalöser ist die Tatsache, dass die Verantwortlichen gesundheits- und lebensgefährdende Drogenkonsumbedingungen in Kauf nehmen, statt weitere Anlaufstellen zu eröffnen. In Bern wäre längst eine zweite (und dritte) fällig, in Thun verschanzen sich die Verantwortlichen hinter «Bedürfnisabklärungs-Analysen», um ihrer Verantwortung für die Eröffnung einer Anlaufstelle zu entgehen.
Nachtrag: Zwar hat Edith Olibet bis Redaktionsschluss das geliehene Fixerzelt nicht aufgestellt – aber es besteht trotzdem Hoffnung. Denn ganz egal scheinen der Obrigkeit die Zustände bei der Reitschule doch nicht zu sein. Am Morgen des 4. September 2006 holten 20 Polizisten in einer dramatischen Aktion und unter dem Schutz von Gummischrotgewehren zu einem entscheidenden Schlag gegen die Drogenszene und zur Lösung des Drogen(politik)problems aus und beschlagnahmten 46 Graspflanzen, die ihr kriminelles Dasein auf der Balkonterrasse der Reitschule-WG fristeten.

augenauf Bern

comix theiss

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