(-> Antwortschreiben des SEM vom 17.05.2023 (PDF))

Bern, 27.04.2023

Guten Tag Frau Bundesrätin Baume-Schneider,

Guten Tag Frau Schraner-Burgener,

Wir nehmen Bezug auf den Artikel „Es fühlt sich an wie ein Gefängnis“ unter derbund.ch vom 17. April 2023.

Das SEM ist verantwortlich für die Führung und den Betrieb der Bundesasylzentren (BAZ) und damit auch für das Wohlergehen, die Sicherheit und die psychische und physische Unversehrtheit aller im BAZ untergebrachten Personen. Die im BAZ lebenden Geflüchteten stehen unter Obhut des Staates, der ihnen gegenüber eine Schutzpflicht hat.

Es besteht der Eindruck, dass das SEM konkrete Missstände und Gewaltvorfälle gegen asylsuchende Menschen innerhalb der BAZ nur auf Druck von aussen thematisiert und in sehr seltenen Fällen überhaupt untersucht. Dies zeigt zum Beispiel der Umgang mit den Gewaltvorwürfen gegen die privaten Sicherheitsdienste im Jahr 2020/21. Entgegen der Beteuerungen des SEM funktionieren die internen Mechanismen, die asylsuchende Menschen vor Gewaltanwendungen, Unterlassungen, willkürlicher und erniedrigender Behandlung schützen sollen, nicht. Hinweise dafür geben Berichte von basisnahen Gruppen, NGOs und der NKVF die in Kontakt zu Betroffenen stehen, über die Missstände in den BAZ (siehe Links unten). Nur dank mutigen Einzelpersonen und zivilgesellschaftlichen kritischen Gruppen gelangt an die Öffentlichkeit, was in den Asylunterkünften des Bundes geschieht.

Die heute durch Isolation geprägte Asylpolitik erschwert es, Einblicke in die BAZ zu erhalten und dementsprechend Gewalt, erniedrigende Behandlung und Unterlassung in der Obhut des Staates lückenlos zu thematisieren und zu kritisieren. Die kürzlich bekannt gewordenen Vorfälle (siehe augenauf-Bulletin Nr. 113 und obengenannter Artikel im Bund vom 17. April 2023) lassen vermuten, dass das SEM seiner Verantwortung hier nicht nachkommt.

Aufgrund des Falles der schwangeren Person im BAZ Ziegler, die ihr Kind verloren hat und aufgrund des Falles der minderjährigen Person, die sexualisierte Gewalt erleben musste, und auf der Grundlage des Betriebskonzepts zur Gewaltprävention in den Bundesasylzentren (BEKO vom 12. April 2021) richten wir folgende Fragen an das SEM:

  • Inwiefern wurden in den jüngsten Fällen im Bundesasylzentrum Ziegler relevante Akteur:innen einbezogen? Welche Akteur:innen wurden einbezogen und welche Massnahmen wurden ergriffen, um die Situation Gewaltbetroffener zu verbessern (allgemein)?
  • Welche Schritte hat das SEM zur Aufklärung der beiden oben genannten Vorfälle unternommen?
  • Wie wurden die betroffenen Personen, der beiden obengenannten Fällen psychologisch unterstützt?
  • Haben die betroffenen Personen die Möglichkeit erhalten, das Zimmer oder die Unterkunft zu wechseln und wie wurden sie dabei unterstützt?
  • Weswegen wurde der Minderjährige trotz seines Wunsches nach Umplatzierung drei Tage in den Raum im BAZ verlegt, welcher dazu dient, abweichendes Verhalten zu sanktionieren?
  • Wurden die Betroffenen mit spezialisierten Fachstellen in Verbindung gesetzt? Wenn ja, mit welchen?
  • Wurde im Falle des minderjährigen Opfers von sexualisierter Gewalt die KESB eingeschaltet? Falls nein, wieso nicht? Hat das SEM dem Minderjährigen Zugang zu spezialisierter medizinischer und psychologischer Soforthilfe im Rahmen des Berner Modells sowie Kontakt zur Opferhilfe und damit verbundene mögliche Leistungen vermittelt? Wenn nein, wieso nicht?
  • Wurde im Fall der schwangeren Person, welche ihr Kind verlor, ein Strafverfahren bzw. eine Untersuchung gegen die involvierten Pflegefachpersonen und weitere zuständige Personen z.B. wegen unterlassener Hilfeleistung oder Verletzung der Berufspflicht eingeleitet? Wenn nein, wieso nicht?
  • Welche Konsequenzen erfahren die Zuständigen, wenn sie ihren Aufgaben nicht nachkommen?

Der Anhang 6 des BEKO «Zugang zur medizinischen Versorgung der AS und Abläufe in der BAZ» sieht auf Seite 16 Folgendes vor: «Für Schwangere wird unabhängig vom Schwangerschaftsmonat zeitnah nach Eintritt ein Termin für eine gynäkologisch-geburtshilfliche Untersuchung und die routinemässige Abnahme einer MMR- und Varizellen-Serologie vereinbart, Impfungen der Schwangeren gemäss Absprache mit den Partnerärzt:innen für die frauenärztliche Versorgung».

  • Werden schwangere Frauen über ihre Rechte aufgeklärt?
  • Erhielt die schwangere Person Zugang zu einer gynäkologischen Untersuchung? Wenn nein, wieso nicht? Wurde eine routinemässige Abnahme einer MMR- und Varizellen-Serologie vereinbart? Wenn nein, wieso nicht?
  • Wer ist für die Kontrolle der oben erwähnten Abläufe zuständig?

Meldung von Gewaltvorfällen gemäss Anhang 15, Punkt 8 des BEKO «Beschwerdemanagement».

  • Wurden in den oben genannten Fällen durch die ORS oder das Pflegepersonal Meldungen ans SEM gemacht?
  • Wurden anschliessend konkrete Massnahmen ergriffen? Wenn ja, welche? Wenn nein, weswegen nicht?
  • An welche konkreten unabhängigen Stellen können sich Personen, welche in den BAZ von Gewalt betroffen sind, wenden? Wie werden sie über diese Möglichkeiten informiert? Wie gelangen diese Informationen ans SEM?
  • Wieso bestehen keine unabhängige Meldestelle bzw. Ombudsstelle in den BAZ, bei der Gewaltvorkommnisse gemeldet werden können?
  • Wie wird das Whistleblowing Portal (s. Oberholzer-Bericht, S. 79) unter den ORS-Mitarbeitenden bekannt gemacht? Wer ist für die Verwaltung der eingegangenen Informationen verantwortlich und wer prüft die Vorwürfe?

Anhang 15, Punkt 7 des BEKO, «Umgang mit Gewaltvorfällen», hält fest, dass die Abläufe für den Gewaltvorfall definiert und allen Partner:innen bekannt seien.

  • Sieht das SEM vor, Gewaltschutzmassnahmen zu erweitern und gesamtschweizerisch und systematisch umzusetzen? Falls ja, wie? Falls nein, weshalb nicht?
  • Inwiefern existieren Kontrollmechanismen, welche den «Wissenstransfer» (S. 24) sicherstellen?
  • Wurden die auf Seite 24 beschriebenen Schritte in den beiden oben erwähnten Fällen befolgt? Wenn nein, warum nicht?

In den BAZ werden Männer, Frauen, LGBTQIA+-Personen und Minderjährige im gleichen Gebäude untergebracht und nutzen teilweise dieselben sanitären Anlagen.

  • Wie beugt das SEM unter diesen Umständen sexualisierte Gewalt vor und wie kommt es seiner Schutzpflicht in diesem Zusammenhang nach?
  • Wie viele Fälle von sexualisierter Gewalt und Übergriffen (allgemein) wurden im letzten Jahr in den BAZ dokumentiert? In wie vielen Fällen führte dies zum Einbezug spezialisierter Fachstellen? Wie viele Fälle von sexualisierter Gewalt und Übergriffen, bei denen Minderjährige betroffen sind, wurden im letzten Jahr in den BAZ dokumentiert? In wie vielen Fällen wurde die KESB eingeschaltet?

Fragen zu Aufgaben und Umgang des Pflege- und Betreuungspersonals

  • Wer ist für die Anstellung des Pflege- und Gesundheitspersonals im BAZ Ziegler zuständig? Wer ist für dessen Controlling verantwortlich?
  • Auf welcher rechtlichen Grundlage kann das Pflegepersonal im BAZ medizinische Unterstützung bzw. Behandlung verweigern?
  • Wie hat das Pflegepersonal bei medizinischen Notfällen vorzugehen?
  • Wer ist für die Anstellung des Betreuungspersonals verantwortlich? Welche Kompetenzen und Ausbildungen müssen Angestellte im Betreuungsbereich mitbringen?

Fragen zu Massnahmen gegen Suizide in den BAZ:

  • Welche Massnahmen ergreift das SEM, um der Suizidalität von Asylsuchenden generell entgegenzuwirken?
  • Mit welchen Massnahmen unterstützt das SEM Personen, von denen eine Suizidalität konkret bekannt ist?
  • Wie viele Suizide gab es im letzten Jahr in den Bundesasylzentren sowie in den kantonalen Unterbringungsstrukturen?

Bei Fragen können Sie sich gerne an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! wenden.

Für Ihre Rückmeldung danken wir Ihnen im Voraus.

Mit freundlichen Grüssen,

augenauf Bern

Migrant Solidarity Network

Offensiv gegen Feminizide

Stop Isolation

Solidarité sans frontières (Sosf)

Verweise:

-       Aus dem Innern des Zentrums, augenauf-Bulletin, März 2023.

-       1-4 Suizidversuche pro Woche pro BAZ: Spielt das SEM mit seiner Fürsorge- und Schutzpflicht für das Recht auf Leben?, Migrant Solidarity Network, 15. Juni 2022.

-       Bericht über die Abklärung von Vorwürfen im Bereich der Sicherheit in den Bundesasylzentren erstattet im Auftrag des Staatsekretariats für Migration (SEM), Niklaus Oberholzer, 30. September 2021.

-       Betriebskonzept Unterbringung (BEKO), 01. Januar 2022.

-       Bericht an das Staatssekretariat für Migration (SEM) betreffend die Überprüfung der Bundesasylzentren (BAZ) durch die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) 2021-2022, 24. April 2023

-       Ich verlange nur, dass Sie Asylsuchende wie Menschen behandeln». Menschenrechtsverletzungen in Schweizer Bundesasylzentren, Amnesty International, 4. Mai 2021.

 

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