Bulletin Nr. 21; Januar 1998

VelofahrerInnen als LückenbüsserInnen

Gemeinsame Sache machen mit Skinheads oder sie ignorieren, dafür umso heftiger VerlofahrerInnen kontrollieren und verfolgen: Viele PolizistInnen nutzen den Freipass, den ihnen die neue Bussenverordnung ab dem 1.10.96 gibt, um die schlimmsten aller VerkehrssünderInnen konsequent zu verfolgen: die FahrradfahrerInnen. Die massive Polizeipräsenz in Zürich hat zur Folge, dass unterbeschäftigte oder frustrierte Beamte sich daran aufbauen können, möglichst viele Bussen zu verteilen. Besonders eifrige starten gar zu Verfolgungsrennen mit ihren Streifen- oder Kastenwagen – mit heulendem Martinshorn – wenn der/die zu Büssende nicht gleich eilfertig vom Rad springt. Alltäglich sind Polizeigruppen, die hinter Hausecken, Gebüschen oder Pissoirs warten, in Funkverbindung mit weiter vorne postierten Beamten, welche FahrradfahrerInnen melden, die die Verkehrsregeln missachten. Die Folge sind auf die Strasse hechtende BeamtInnen. Trotzdem ist die Fangquote bescheiden, sind doch Velos um einiges wendiger. Das bekommen vor allem diejenigen zu spüren, welche nicht wegkommen – an ihnen rächen sich die zuvor gedemütigten Beamten mit einer intensiven Auslegung des Bussen-Kodex. Es ist wohl kein Zufall, dass die derbsten Berichte ausgerechnet aus den ruhigeren Kreisen 7 (Zürichberg) und 8 (Seefeld) kommen. Schliesslich wollen sich diese Beamten auch austoben, an der Action teilhaben – selbst wenn es sich beim Gegenüber nur um FahrradfahrerInnen handelt.

 
April 97
Der Velokurier M. fährt die Rämistrasse zwischen den Tramgeleisen Richtung Bellevue. Auf der Höhe der Stadelhoferstrasse biegt er (unerlaubterweise) links ab. In der Mündung der Stadelhoferstrasse springt ihm ein Polizist mit gezogenem Knüppel entgegen, bereit, ihn M. über den Kopf zu ziehen. M. zieht es vor anzuhalten. Ein zweiter Polizist, wesentlich ruhiger als der erste, nimmt M’s Personalien auf. Es wird eine Verzeigung beim Polizeirichter geben, wegen Überfahren der Sicherheitslinie und unerlaubtem Abbiegen.
 
April 97
P. wird aus dem fahrenden Tram Zeuge, wie an der Seefeldstrasse ein Velofahrer – mit Einkaufstaschen beladen – zwischen Feldeggstrasse und Höschgasse von einem hinter dem Gebüsch hervorspringenden Polizisten der Kreiswache (KW) 8 rücklings vom Fahrrad gerissen wird. Sein Vergehen: Missachten der Einbahnstrasse.
 
Juni 97
Der Velokurier J. fährt über das Central Richtung Seilergraben. Viele FussgängerInnen benutzen den Zebrastreifen beim Polybähnli, so dass J. aus dem Sattel geht, bremst und ganz langsam auf den Streifen zurollt, darauf wartend, dass er weiterfahren kann. Schliesslich hält er sogar an. Aus dem Nichts rennt von rechts ein Polizist über den Streifen und hält J. die Faust vor die Nase. «Wenn Du weitergefahren wärst, hätte ich dich zu Boden geschlagen.» J., der sich zuvor nichts zuschulden kommen liess, ist so baff, dass er erschrocken weiterfährt, ohne Zeugen zu suchen, die den Vorfall bestätigen.
 
Juli 97
Der Velokurier R. ist Richtung Stadtzentrum unterwegs und überfährt auf der Bellerivestrasse ein oder zwei Rotlichter. Er bemerkt nicht die Streife der KW 8, die ihm hinterherfährt. Erst als sie neben ihm sind und ihn zum Anhalten auffordern, realisiert er es. Er springt aufs Trottoir und haut ab. Die Streife folgt ihm mit Blaulicht. Nach ca. 200 Metern steigt R. ab dem Fahrrad und gibt auf. Er stellt sein Fahrrad ab und erhebt die Hände. Die Streife hält quitschend und die beiden Polizisten springen raus und werfen R. auf den Boden. Sie drehen ihm die Hände auf den Rücken, fesseln sie mit Handschellen. Einer drückt R. das Knie in den Rücken und zieht R.'s Helm so nach hinten, dass das Kinnband R. so in den Hals drückt, dass er kaum noch Luft bekommt. In Panik beisst R. in die Hand, die er vor sich sieht, worauf er wieder Luft erhält. R. wird mit dem Kastenwagen in die Urania überführt, verhört und nach ca. drei Stunden wieder freigelassen.
 
Mitte August 97
Eine Velokurierin überfährt beim Kunsthaus zwei Rotlichter und fährt Richtung Unispital. Sie bemerkt, dass sie falsch gefahren ist, und wendet auf dem Trottoir. Dabei sieht sie, dass eine Streife es auf sie abgesehen hat. Sie überlegt nicht lange, sondern haut ab Richtung Seilergraben. Doch bereits auf der Höhe der Haltestelle des Dreiers holt die Streife sie mit Blaulicht und Sirene ein. Aus Angst, vom Polizeiauto abgedrängt und zu Fall gebracht zu werden, steigt sie ab und gibt sich geschlagen. Auch sie wird im Kastenwagen auf den Posten der KW 7 mitgenommen. Beifahrer des Polizeiautos: B. Freimüller.
 
19.9.97
Auszug aus dem Gedächnis-Protokoll, welches E. den höheren Dienststellen der Stadtpolizei und dem Stadtpräsidenten geschickt hat:
Der Velokurier E. fährt die Hottingerstrasse Richtung Kunsthaus hinunter. Als er beim Heimplatz das Rotlicht überfährt, vermutet er die Gefahr nur vor sich, deshalb schaut er nicht zurück. Erst nachdem er über das zweite Rotlicht bei der Stadelhoferstrasse rollt – kurz bevor es auf grün wechselt – bemerkt er den Streifenwagen, der ihn mit hohem Tempo überholt und quer auf das Trottoir hüpft, um E. den Weg abzuschneiden. E. macht kehrt, doch findet er nicht gleich den richtigen Gang, so dass er sich geschlagen gibt und die Pedale ausklickt. Ein junger Polizeibeamter – B. Freimüller der KW 7 – hechtet aus dem Streifenwagen, rennt E. nach und wirft sich auf ihn, so dass beide zu Boden stürzen. Mühsam erheben sie sich. Nun gesellt sich der ältere Fahrer – Peter – hinzu und hilft beim Schütteln und Stossen. Freimüller hat gesehen, dass E. Probleme mit dem Gang gehabt hat. «So einfach hätten sie es sonst nicht gehabt», sagt er zu E. Trotzdem hören die beiden Polizisten nicht auf, E. zu stossen. Sie treten ihn sogar in die Waden und die Kniekehle. E. beginnt sich aufzuregen, die Beamten sind zufrieden mit ihrer Arbeit, seien doch die Velokuriere «die Schlimmsten», wie Freimüller bemerkt, «denn sie schaden dem guten Ruf der Stadt Zürich.» Nach den Junkies die Velokuriere. Jugend ohne Velo...
Die Beamten lassen nicht von ihrer Beute ab. Sie verlangen einen Ausweis zu sehen und lassen keine Gelegenheit aus, E. an der Schulter zu stossen, wenn er seine Kuriertasche auf den Bauch drehen will, um ihnen zu zeigen, dass er tatsächlich keinen Ausweis auf sich trage. Erst nach einigen Versuchen gelingt es ihm, die Tasche zu öffnen. Zweimal werfen sie ihn sogar so heftig gegen ein Schaufenster, dass der Inhaber des Geschäftes auf die Strasse tritt und zur Ruhe mahnt: «Sie könnten ihren Streit woanders austragen.» Eine ganze Menge Schaulustiger hat sich inzwischen in der Nähe versammelt. Bellevue zur Mittagszeit. Zwei Rotlichter überfahren und missglückte Flucht ist das Vergehen.
Um die Identität des Täters zweifelsfrei festzustellen, verlangen die Freunde und Helfer über Funk einen Kastenwagen. E. hat inzwischen ebenfalls über Funk seine Zentrale informiert und eine Ablösung verlangt, die einen unerledigten Auftrag übernehmen soll. Als der Kastenwagen kommt, wollen die Beamten E. mit auf den Posten nehmen. Sie überqueren dabei die Rämistrasse zwischen zwei Fussgängerstreifen, deren Ampel auf Rot stehen. E. ist unsicher, soll er noch ein drittes Rotlicht übertreten, diesmal zu Fuss? Aber die Polizisten fordern ihn unmissverständlich auf, ihnen jetzt zu folgen.
Wer nicht anhält, wird umgefahren
E. nimmt hinten im Kastenwagen Platz, zusammen mit seinem Fahrrad. Die Fahrt zur Kreiswache 8 an der Feldeggstrasse dauert fast eine Viertelstunde. Statt über Limmatquai und Utoquai macht der Fahrer noch eine kleine Rundfahrt über die Hottingerstrasse.
Als sie sich auf der Wache gegenübersitzen, sind dann alle etwas ruhiger. In der gewohnten Umgebung der Kreiswache und ohne die vielen ZuschauerInnen kommen die Beamten sogar ins Plaudern. Weshalb die Velokuriere die Schlimmsten seien, kann oder will keiner mit Beispielen belegen, dass sie E. gefasst hätten sei aber klar. Sie würden alle «ineneh», und wer nicht anhalte, «den würde ich anfahren», sagt Freimüller. Erschrocken fragt E nach: Das sei ja unverantwortlich, einen Velofahrer, womöglich in Panik, unter einen Lastwagen zu jagen oder gar zu überfahren. «Das ist dann nicht mein Problem», erwidert Freimüller leichthin. Er habe das schon gemacht, behauptet er, und «es sei nichts passiert» (dabei handelt es sich um den Vorfall von Mitte August).
E. spürt bei jedem Schritt die Beule unter der linken Wade, den Bluterguss in der rechten Kniekehle beim In-die-Pedalen-treten. Zwei Tage später verfärben sich die Schienbeine noch blau, der Bluterguss breitet sich weiter aus. Für einen Arztbesuch zu wenig, für eine grosse Aufregung ebenfalls.

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