Bulletin Nr. 44; Dezember 2004

«Nei, die Familie gaht mer nöd in Bunker!»
«Nei, die Familie gaht mer nöd in Bunker!», ruft die Gemeindeverantwortliche hell entsetzt morgens um 8 Uhr ins Telefon. Sie sei ja sonst nicht so, fügt sie noch an. Sie arbeitet im Sozialamt in einer Zürcher Goldküstengemeinde, wo Verständnis und Engagement für Flüchtlinge nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden können. Was ist passiert? Eine Familie mit sechs Kindern, drei davon schulpflichtig, ist gerade ein Jahr in der Schweiz. Der Vater hat einen Job in einem Hotel gefunden, wo man den fleissigen Mitarbeiter schätzt. Er hat in kurzer Zeit Deutsch gelernt und kommt ohne Übersetzer aus. Musterflüchtlinge, wie man sie gerne hat. Da kommt der Brief von Bern: Nichteintretensentscheid (NEE): fünf Arbeitstage Frist für eine Beschwerde. Was tun? Während der Arbeitszeit wagt der gewissenhafte Vater nicht, Hilfe zu suchen. Ein junger Arbeitskollege, dem auffällt, wie sorgenvoll verändert der ältere ist, weiss im letzten Moment Rat. Er kennt eine Adresse, wo man vielleicht in den letzten verbleibenden Tagen noch eine Beschwerde machen könnte. Wo sind die Verfahrensakten? Als Beilage sind sie zwar im Entscheid aufgeführt, zugeschickt worden aber sind sie nicht. Die viel gelobte Verfahrensbeschleunigung im Bundesamt hat einen merklichen Qualitätsabfall zur Folge. Also Blindbeschwerde, um die Frist nicht zu verpassen. Fünf Arbeitstage sind eine Zumutung. Was wären die Folgen, wenn man es nicht schafft? - Ausschluss aus der Asylfürsorge, sofortiger Stopp der Arbeitsbewilligung, der Vater vermutlich in Ausschaffungshaft, die Familie auf die kantonale Nothilfe verwiesen, Ausweisung aus der Gemeindewohnung, Schluss mit dem Schulbesuch der Kinder, ab in den Zivilschutzbunker. So ist der entsetzte Ausruf der Sozialarbeiterin zu verstehen. Sie kann es einfach nicht fassen, wie mit den Menschen umgegangen wird, und dann noch mit solchen, die sich so mustergültig verhalten. Und wie ist das mit den nicht so Mustergültigen? Nach einer längeren Diskussion sieht sie ein, dass so überhaupt nicht mit Menschen umgegangen werden kann. Nach einer «Freinacht» geht die Beschwerde fristgerecht an die zuständige Behörde. Eine Zwischenverfügung erlaubt der Familie, den Entscheid in der Schweiz abzuwarten, auf einen Kostenvorschuss wird verzichtet - es ist absehbar, dass diese Familie überhaupt nicht ausgewiesen werden kann, weil kein Land bekannt ist, das einer Rückkehr zustimmen würde. augenauf Zürich

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