Bulletin Nr. 41; März 2004

Ein Tschetschene aus der Schweiz in die Arme russischer Beamter abgeschoben

Tschetschenien - wo ist das schon wieder?
... so mögen manche übersättigten NachrichtenkonsumentInnen hierzulande reagieren, wenn sie das Wort Tschetschenien hören. So geht das halt mit den vergessenen Kriegen. Aus allen Weltgegenden werden wir überfüttert mit immer neuen, brandaktuellen Massakern, Wirren, Umstürzen Attentaten … bis zum Überdruss oder kalter Gleichgültigkeit. Aus den Etagen derer, die eigentlich informiert sein müssten, ist auch nicht viel zu hören von der kleinen Teilrepublik im Kaukasus, die seit langer Zeit für ihre Unabhängigkeit kämpft. Man will dem neuen Russland mit seinem wiedergewählten Präsidenten wohl nicht allzusehr auf die Zehen treten, wenn interessante Geschäfte locken. Der zweite Tschetschenienkrieg war denn auch das Sprungbrett an die Macht für den ehemaligen KGB-Funktionär. Im weltweit erklärten «Krieg gegen den Terror» hat er es trefflich verstanden, seinen Hauskrieg als solchen zu vermarkten und Punkte zu sammeln. Am 23. Februar 2004 versammelten sich 50 Frauen, Männer und Kinder aus Tschetschenien vor dem Bundesamt für Flüchtlinge um dem 60. Jahrestag der gewaltsamen Deportation ihres Volkes zu gedenken.
 
Tschetschenen in der Schweiz?
Ja, die gibt es, nur werden sie nicht als solche wahrgenommen, weil sie eben als Russen zählen. Die Zahl ist klein im Vergleich zu anderen Flüchtlingsgruppen, eine starke Lobby fehlt, erst letztes Jahr gelang es ihnen, einen Verein zu gründen zur Vertretung ihrer Anliegen. Die Versammlung vor dem BFF war denn auch ein Protest gegen die Verschleppung ihrer Asylanträge, gegen das grundsätzliche Misstrauen der Asylbehörden, die ihre Energie vor allem darauf konzentrieren, «Falschtschetschenen» auszusieben. Auch das gibt es, wie bei jedem Konflikt, wenn ringsum Not und Armut die Menschen zum Wandern zwingen.
 
Was heisst zumutbar?
Am 23. Februar fand aber auch eine Protestaktion statt gegen die Zwangsausschaffung eines jungen Mannes aus Tschetschenien, die am 4. Februar stattgefunden hatte. Das BFF ist auf sein Asylgesuch am 14. Januar 2004 nicht eingetreten, obwohl es genügend Anzeichen für politische Verfolgung gab. Er habe seine Mitwirkungspflicht «schuldhaft in grober Weise verletzt». So wurde auch einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung entzogen, d. h. die Polizei des Wohnkantons konnte ihn nach Ablauf einer 24-Stundenfrist ausschaffen. Alle Bemühungen, für ihn noch rechtzeitig eine Beschwerde einzureichen, blieben erfolglos. Wie hatte denn der junge Flüchtling so schuldhaft seine Pflicht verletzt? Bei der kantonalen Befragung hatte er darum gebeten, über seine Asylgründe in seiner Muttersprache Tschetschenisch berichten zu dürfen und nicht auf Russisch. Er konnte sich zwar oberflächlich auf Russisch verständigen, aber seit Ausbruch des zweiten Kriegs wurde der Schulunterricht nicht mehr in dieser Sprache gehalten, weil die russischen Lehrer Tschetschenien verlassen hatten. Bei einer zweiten Direktbefragung beim BFF bestand er auf einer Übersetzung in der Muttersprache, was ohne weiteres möglich gewesen wäre, wenn man denn gewollt hätte. Ohne sorgfältige Abklärung der Zumutbarkeit wurde beschlossen, ihn loszuwerden. O. wurde am 2. Februar im Zentrum verhaftet. Er durfte kurz seinen Onkel in der Schweiz anrufen. Zahlreiche Bemühungen, die Ausschaffung zu stoppen, um doch noch Beschwerde einzureichen, scheiterten. Dabei wurden UnterstützerInnen von BFF-Beamten angelogen. Am 4. Februar wurde O. im Gefangenentransportauto von Chur nach Kloten gefahren, dort der Flughafenpolizei übergeben und in Handschellen in die Maschine einer russischen Fluggesellschaft gesetzt. Seinen Inlandpass und andere ID-Dokumente übernahm die Crew des Flugzeugs. In Moskau erwarteten ihn drei offensichtlich vorab informierte russische Beamte an der Flugzeugtreppe. Er wurde verhaftet und geschlagen. Aus seinen Papieren geht die tschetschenische Herkuft hervor.
 
3000 Dollar kostet ein lebender Tschetschene
Alarmierte Menschenrechtsaktivisten versuchten in aller Eile, ihn aus der Haft zu befreien, da erfahrungsgemäss Folter und Verschwindenlassen drohen. 3000 Dollar sind der Preis für einen lebenden Tschetschenen. Für Tote zahlen die Familien etwa zwei Drittel dieser Summe. O. wurde versteckt. Er wagte es nicht, zum Arzt zu gehen, um seine Verletzungen zu bestätigen. Bei der Rechtsvertretung waren inzwischen ein die Schlagspuren dokumentierendes Farbfoto und eine Vollmacht per Post angekommen. Eine Beschwerde wurde eingereicht. Zeitungsartikel, Unterstützungsschreiben, Proteste - wie üblich versandete alles im Aussitzungsvermögen der Behörden. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, d. h. die sofortige Rückkehr in die Schweiz, wurde am 23. Februar abgelehnt. Zwei Tage nach der Ausschaffung explodierte eine Bombe in einem Metrozug in Moskau. Zahlreiche Tote und noch mehr Verletzte waren zu beklagen. Die Hatz auf «Schwarze», wie Kaukasier in Russland genannt werden, nahm noch einmal dramatisch zu. Der Präsident sprach öffentlich von Vernichtung. Was heisst zumutbar? Ein Tschetschene mehr oder weniger, was solls? augenauf Zürich

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