Bulletin Nr. 38; Juni 2003

Statt Betreuung: Strafvollzug und Ausschaffungshaft

Kindersoldaten in der Schweiz

Kindersoldaten gibt es - aber doch nicht bei uns! Und es gibt sie doch. K., ein minderjähriger unbegleiteter Flüchtling, leidet in der Schweiz an seiner Geschichte.

Beim Begriff Kindersoldaten denken wir unwillkürlich an weit entfernte Länder wie Sierra Leone, Kongo, Sudan - überall da, wo lang andauernde Bürgerkriege halb vergessen von der Weltöffentlichkeit stattfinden. Das Problem ist zwar erkannt, auf dem Internet finden sich zahlreiche Dokumente von Uno-Programmen und NGOs zur Prävention, Reintegration usw.
K. ist als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling aus Somalia in die Schweiz gekommen. Er stammt aus einer mittelständischen Grossfamilie in Mogadishu. Beim Zusammenbruch der staatlichen Strukturen in Somalia nach dem Sturz des Diktators wurde er von einer kämpfenden Gruppe entführt und musste drei lange Jahre unter schlimmsten Umständen ausharren, bis ihm die Flucht glückte. Tiefe Narben im Gesicht und eine schlecht verheilte Trümmerfraktur eines Knöchels sind die sichtbaren Andenken, die er mit sich trägt.
 
Niemand merkt, was K. braucht
Wie alle Flüchtlinge aus Somalia erhält er die vorläufige Aufnahme, weil es gar nicht möglich ist, ihn zurückzuschicken. Und das ist auch alles. Ohne Freunde, ohne Familie, allein gelassen mit der Last seiner Vergangenheit und dauernden Schmerzen. Niemand scheint zu erkennen, was dieser Junge bräuchte: vorerst eine Operation, um das Fussgelenk schmerzfrei zu machen, und eine intensive zuwendende Behandlung, um das schwere Trauma zu verarbeiten und eine Zukunftsperspektive aufzubauen.
K. betäubt seine äusseren und inneren Schmerzen mit Alkohol. Gerät in Schlägereien, wenn er rassistischen Belästigungen ausgesetzt ist. Einmal kommt es zu einer Körperverletzung, er wird hart bestraft, auf Anerkennung strafmildernder Umstände ist nicht zu hoffen, wenn ein Flüchtling aus Afrika beteiligt ist. Kurz vor der Entlassung aus der Strafanstalt wird ihm ein übler Streich gespielt. Im Strafurteil gab es keine Landesverweisung, das Migrationsamt aber will ihn loswerden. Doppelte Strafe heisst dies. Ein Formular wird ihm vorgelegt, er soll seine Personalien ausfüllen und unterschreiben. Das Kleingedruckte liest er in der Eile nicht . Es ist ein Antrag ans Konsulat, worin er erklärt, dass er «freiwillig» nach Somalia zurückkehren will! Am Ende der Strafe winkt dann nicht die Freiheit, er gerät in Ausschaffungshaft. Dort wird er von augenauf besucht. Der Haftrichter bestätigt die Haft, obwohl K. erklärt, dass er so nie zugestimmt hätte. Ein Anwalt reicht kurz darauf ein Haftentlassungsgesuch ein, zusammen mit einem handgeschriebenen Satz: «Ich will nicht nach Somalia zurück.»
 
Viel Interesse und Applaus
K. ist jetzt frei und findet endlich die Aufmerksamkeit, die er viel früher gebraucht hätte. Er hat ein Zimmer, kann arbeiten und - er hat jetzt Freunde.
Ein Gruppe Kantonssschüler lädt ihn zu einer Veranstaltung im Volkshaus ein: 21. Mai, Toleranztag. Mitten in den Maturavorbereitungen haben diese wenigen Engagierten ein reiches Programm rund um alle möglichen Probleme unserer Gesellschaft zusammengestellt.
K. erzählt vor hunderten von SchülerInnen seine Geschichte. Er hat zwar Lampenfieber, schwitzt und umklammert das Mikrophon mit der Faust, als ob er es zerquetschen möchte. Aber er schafft es. Er beschönigt nichts und erntet viel Interesse und Applaus.
Am 23. Mai ist im Gratisblatt «20 Minuten» ein kleiner Artikel zu lesen: Blutige Clan-Kämpfe in Somalia. 11 Tote in der südlichen Hafenstadt Kismaio. Einige Tage zuvor 20 Tote und 40 Verletzte in Zentralsomalia.
Vielleicht merkt der eine oder die andere der zahlreichen SchülerInnen des Volkshaus-Anlasses beim Lesen dieser unscheinbaren Nachricht auf, denkt an K., an seine Stimme, an sein beschädigtes Gesicht, an seine Geschichte und daran, dass die Schweizer Behörden kaltblütig planten, ihn in das kriegsszerrissene Land abzuschieben.
augenauf Zürich

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