Bulletin Nr. 38; Juni 2003
Statt dass ein Asylsuchender zum Arzt gehen kann, wird er als
renitent und gefährlich erfasst
Im bürokratischen Dschungel
Die Angestellten der Privatfirma ORS sind nicht sehr konfliktfähig.
Dazu sind sie auch nicht ausgebildet. Ihr deklariertes Ziel ist die
Kostensenkung pro Flacon Shampoo und die Profiterwirtschaftung durch
Umsatzsteigerung. Wenn sie jedoch selbst Konflikte auslösen, geht dies zu
weit. Die Folgen tragen nicht sie, sondern ihre Zwangskundschaft.
M. wird nach knapp sechs Monaten erfolgloser Ausschaffungshaft entlassen,
ohne Angaben einer Adresse, wo er sich hinwenden könnte, hingegen mit der
Aufforderung, die Schweiz innert 48 Stunden - illegal - zu verlassen. M.
war via Flughafen nach einem abgelehnten Transitverfahren ins Gefängnis
gekommen und kennt sich in der Schweiz nicht aus. Er findet samt Gepäck
Unterkunft für eine Nacht bei einem afrikanischen Mann und reist
anschliessend nach Kreuzlingen an die Empfangsstelle des BFF, um seine
Einreise in die Schweiz registrieren zu lassen. Dort hat er einen Unfall:
beim Korbballspiel im geschlossenen Hof der Empfangsstelle stürzt er und
verletzt sich. Anschliessend leidet er an heftigen Rückenschmerzen. Ein
Arztbesuch wird ihm verweigert, dies könne er dann nach dem Transfer in den
Kanto tun. (Die Unterkunft an der Empfangsstelle wird von der ORS,
Organisation für Regie- und Spezialaufträge, betrieben)
Zurück in Zürich, wird er am Freitagnachmittag in die Notunterkunft (NUK)
Zollikon gewiesen. Als er dort mit seinem Gepäck ankommt, ist gerade die
Verteilung des Wochengeldes von 14 Franken vorbei. Das könne er am nächsten
Freitag wieder erhalten, wird ihm beschieden. Auch die NUK wird von der ORS
betrieben.
Ein Handgemenge im Büro
Am folgenden Montag geht er ins Büro: er möchte einen Arzttermin wegen der
anhaltenden Rückenschmerzen und fragt gleichzeitig, ob er nicht das
verpasste Wochengeld jetzt erhalten könne.
Was sich in der Folge abspielt, da steht Aussage gegen Aussage, allerdings
gibt es auch Zeugen für den «Angeklagten». Ein Angestellter der ORS
versucht ihn aus dem Büro zu stossen, offensichtlich wird nur seine Frage
nach dem Geld gehört, nicht aber sein Wunsch nach dem Arztbesuch. Ein
Telefonanruf an seine Rechtsvertreterin ergibt ein konfuses Bild: er ist
völlig aufgelöst und versteht die Welt nicht mehr. Auf Anfrage im Büro
kommt der Chef selber: Ja, sie hätten jetzt die Polizei gerufen. Der Mann
habe eine Angestellte verletzt, sie habe eine Eiskompresse auf dem Auge.
Folge: Hausverbot und 14 Tage keine neue Unterkunft. Nein, den könnten sie
hier nicht mehr behalten, der sei ja so gross!
Zu sagen ist: M. misst 1.90 Meter, ist Sportboxer der Kategorie
«Schwergewicht» und von Beruf Bodyguard. Eine eindrückliche Erscheinung,
aber die Sanftmut und Höflichkeit in Person. Unter den gegebenen Umständen
erweist sich diese Mischung zunehmend als Handicap. Die Polizei nimmt ihn
mit, befragt jedoch vorher Augenzeugen unter den Bewohnern der NUK.
Offensichtlich hat das Büro Anzeige erstattet. Nach der Einvernahme
verzichtet der Untersuchungsrichter auf U-Haft, M. darf gehen. Wohin mit
Sack und Pack? 123.50 Franken werden ihm als Minimalunterstützung für 14
Tage ausbezahlt. Er findet vorläufig Aufnahme bei seiner Rechtsvertreterin.
Telefonische Anfrage bei der kantonalen Asylfürsorge: Wer ist
«Gatekeeper-Arzt» (Der für Flüchtlinge in einer staatlichen Unterkunft
zwingend vorgeschriebene «Hausarzt») bei behördlich angeordneter
Obdachlosigkeit? Dies ist immer noch der Hausarzt des Zentrums. Ein Termin
für den nächsten Morgen wird vereinbart. Ein Anruf im Zentrum,
um die Versicherungsnummer der kollektiven Krankenkasse zu erfahren, ergibt
vorerst nichts. Zwei Stunden später wird mitgeteilt, der Hausarzt habe per
Fax die notwendigen Unterlagen erhalten. Da scheinen Telefonanrufe hin- und
hergegangen zu sein, und eine fast servile Korrektheit macht sich
bemerkbar. M. geht zum Arzt, Röntgenaufnahmen werden gemacht, der Befund
soll später mitgeteilt werden, ein Rezept für eine Privatapotheke
verursacht Kosten von 18.25 Franken.
Durch das Behördendickicht
Wie weiter? M. ist jetzt als gewalttätiger, gefährlicher, renitenter Mensch
erfasst. Er muss damit rechnen, nach 14 Tagen ins Minimalzentrum Rohr
geschickt zu werden, 50 Meter entfernt vom Gefängnis, wo er sechs Monate
lang gefangen war.
Die Rechtsvertreterin, um Korrektheit in behördlichen Auflagen bemüht,
erfüllt die Meldepflicht im Kreisbüro innerhalb der vorgeschriebenen acht
Tage, um einer Polizeibusse zu entgehen. Ihr Gast ist jetzt ordentlich
eingetragener Bewohner der Stadt Zürich, sein Name ist auf dem Briefkasten
angebracht. So kann auch der Untersuchungsrichter eine allfällige Vorladung
zustellen, was bei Obdachlosigkeit mit einigen Schwierigkeiten verbunden
sein dürfte.
Knapp vor Ablauf der verordneten 14 Tage Obdachlosigkeit geht M. mit seiner
Rechtsvertreterin zur städtischen Platzierungsstelle und erhält - als
Bewohner der Stadt Zürich - einen Platz in einem normalen Zentrum. Und was
machen alle die, die sich unbegleitet im bürokratischen Dschungel verirren?
augenauf Zürich
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