Bulletin Nr. 36; Dezember 2002
Zwei Leidenswege von kranken Flüchtlingen
Die Diagnose wird von Laien gestellt
F. erblindet beinahe auf einem Auge, weil ihn die Leiterin eines
Zentrums im Aargau für einen Simulanten hält. Folteropfer S. wird der
Zugang zu einer Therapie verwehrt, solange er kein anerkannter Flüchtling
ist.
F. hat einen akuten Anfall von Kopfschmerzen, Sehstörungen und Schwindel.
Er geht ins Büro der Zentrumsleitung und verlangt einen Hausarztbesuch. Die
Leiterin verweigert dies. Er wolle sich doch nur vor der Arbeit drücken.
Seine «Arbeit» ist ein Workfare-Programm (Recycling von Elektronikgeräten)
ohne Lohn. Er besteht auf dem Arztbesuch. Erst nach einiger Zeit ruft die
Chefin den «Gatekeeper»-Arzt an und teilt ihm mit, dass es sich bei F. um
einen Simulanten handle. Er wolle sich vor der Arbeit drücken.
So «informiert», empfängt ihn der Arzt mit den Worten, wenn er in der
Schweiz sei, müsse er sich auch mit den Bräuchen hier abfinden und dazu
gehöre eben auch die Arbeit. F. fragt ihn, ob er Arzt sei und seine
Beschwerden jetzt untersuchen wolle. Schnell stellt sich heraus, dass er
einen akuten Anfall des grünen Stars, Glaukom, hat. Er leidet unter
massivem Überdruck im linken Auge. Die Sehkraft ist bereits beeinträchtigt.
Der Hausarzt überweist ihn sofort an einen Spezialisten, eine rasche
Operation im Kantonsspital folgt. Die Sehkraft bleibt geschädigt. Glaukom
ist nicht heilbar und muss dauernd behandelt und kontrolliert sein, um die
gänzliche Erblindung zu verzögern. Wie viel kostbare Zeit wurde vertan
durch die anfängliche Weigerung der Zentrumsleitung?
Später meldet der Spezialist F. zu einer Untersuchung bei einem bekannten
Professor in der Basler Augenklinik an. Dort wird er für eine stationäre
Abklärung aufgeboten. Als er in Basel ankommt, schickt man ihn wieder nach
Hause. Sein Wohnkanton habe die Kostengutsprache für auswärtige stationäre
Behandlung nicht geleistet.
Wie viel ist das Augenlicht eines Asylsuchenden wert? Das Bundesamt für
Flüchtlinge (BFF) will ihn unterdessen nach Angola zurückschicken. Seine
Familie könne dort für die Behandlungskosten aufkommen. Eine Familie, die
in einem Dorf weitab von der Hauptstadt mit kärglicher
Subsistenzlandwirtschaft überlebt.
Verspätete Behandlung eines Folteropfers
S. hat mehrere Jahre als politischer Gefangener in Tunesien hinter sich und
wurde erwiesenermassen gefoltert. Nach der Einreise am Flughafen kommt er
in den Kanton Aargau. Er ist hochgradig nervös, gespannt, ängstlich und
leidet unter dem Lärm in den Durchgangszentren. Er wird vom Hausarzt an den
externen Psychiatrischen Dienst überwiesen und dort mit hoch dosierten
Neuroleptika behandelt, die er wegen starker Nebenwirkungen selber absetzt.
In einem Bericht der behandelnden Ärztin heisst es:
«... für uns ist die Medikamenten-Compliance fraglich ...»
«... eine kognitive Verhaltenstherapie der posttraumatischen
Belastungsstörung ist aufgrund der Sprachbarriere bei uns nicht möglich
...» (der Patient spricht Französisch!)
«... sehen wir zur Zeit allgemein eine Psychotherapie auch aufgrund der
Sprachkenntnisse und fehlender Motivation als wenig sinnvoll an ...»
S. ist heute als Flüchtling anerkannt. Ein Jahr und sieben Monate hat seine
Leidensgeschichte gedauert. Massiver Druck war nötig, bis es endlich so
weit war. Unzählige telefonische Kriseninterventionen fanden statt (als ob
dies zu den Aufgaben einer Rechtsvertreterin gehören würde). Die letzten
Monate vor dem positiven Entscheid verbrachte S. in einer psychiatrischen
Klinik, weil es in diesem Kanton keine Möglichkeit gibt, solche Menschen
unter erträglichen Umständen zu platzieren. Zugang zu Therapie für
Folteropfer ist in der Schweiz erst nach der Anerkennung möglich.
Bei der fortschreitenden Privatisierung der Flüchtlingsbetreuung und weiter
gehenden Restriktionen der medizinischen Leistungen werden noch weit mehr
schwer traumatisierte Asylsuchende von unqualifiziertem Personal in
menschenunwürdigen Unterkünften zusätzlichem Leiden ausgesetzt.
Die Argumentation der SVP und der zuständigen Zürcher Regierungsrätin,
echte Flüchtlinge würden sich an diesen Verhältnissen nicht stossen und
froh sein, in Sicherheit zu leben, ist zynisch, zeugt von einer
menschenverachtenden Haltung und gewollter Verkennung der Wirklichkeit.
augenauf Zürich
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