Bulletin Nr. 35; September 2002
Im Zweifel für den Angeklagten - vor allem, wenn dieser ein
Kantonspolizist ist
Hurra! Der Rechtsstaat lebt!
«In dubio pro reo» - im Zweifel für den Angeklagten. Das Zürcher
Obergericht wendet den Grundsatz für einmal extensiv an. Der Angeklagte war
zum Tatzeitpunkt Kantonspolizist.
Der Fall hat für Schlagzeilen gesorgt: Ein 63-jähriger Kantonspolizist
wurde am 1. August 99 in flagranti erwischt, als er im Frauenschlafraum des
Transitbereichs im Zürcher Flughafen versuchte, eine 20-jährige Ruanderin
zu sexuellen Diensten zu nötigen. Nun hat das Zürcher Obergericht das
Urteil der Vorinstanz aufgehoben und den Mann freigesprochen. Kennt man die
Vorgeschichte, so ist die Begründung einigermassen absurd. Das Obergericht
argumentiert, dass nur eine polizeiliche Befragung des Opfers ohne
Konfrontation mit dem Angeklagten und ohne Beizug der Verteidigung
stattgefunden habe. So müsse man den Polizisten trotz «erheblichem
Verdacht» halt freisprechen. Für einmal obsiegte der Grundsatz «in dubio
pro reo» - im Zweifel für den Angeklagten.
«Selber schuld» könnte man denken. Wie kann man auch nur einen Polizisten
der versuchten Vergewaltigung beschuldigen und dann für eine Aussage nicht
mehr zur Verfügung stehen?
Tatsache ist, dass die Ruanderin so schnell wie möglich aus der Schweiz
verschwinden musste, wollte sie verhindern, ausgeschafft zu werden. Denn
obwohl sie möglicherweise Opfer und einzige Zeugin eines schweren
Verbrechens ist, wurde ihr die Einreise in die Schweiz nicht erlaubt. Ihr
Asylgesuch war im Eil(Transit)-Verfahren abgelehnt worden, dem Rekurs wurde
die aufschiebende Wirkung entzogen. Nicht nur durfte sie den Ort, in dem
sie von einem Polizeibeamten massiv bedrängt worden war, nicht verlassen,
sondern sie musste auch stündlich mit der Ausschaffung rechnen. Sie floh
also weiter. Gegen das Opfer wurde, da sie als abgewiesene Asylbewerberin
gilt, routinemässig ein Einreiseverbot verhängt.
Weisse Herren
Der Schreibende kennt das Opfer nicht persönlich. Doch braucht es nur wenig
Fantasie, um die Absurdität des Entscheides des Zürcher Obergerichts
festzustellen.
Eine junge Frau aus Ruanda strandet auf dem Weg in ein anderes europäisches
Land (wohin sie übrigens ein Kind zu seinem Vater bringen wollte - aber das
ist eine andere Geschichte) im Flughafen Kloten. Sie wird im Transit des
Flughafens festgehalten und befragt. Zwar schafft sie es, eine
Rechtsvertreterin zu beauftragen, doch ihr Asylgesuch wird sofort
abgelehnt. Man(n) gibt ihr zu verstehen, dass sie ausgeschafft wird,
notfalls auch mit Gewalt. Ganz sicher sind ihr die Befugnisse und
Funktionen all der beteiligten Behörden (BFF, Frepo, Kapo …) nicht ganz
klar. Einer der anwesenden mächtigen Männer befiehlt sie in sein Büro. Der
63-jährige Uniformpolizist versucht die 20-jährige Afrikanerin sexuell
auszubeuten. Was hat er ihr versprochen, mit was hat er ihr gedroht?
Am gleichen Abend versucht er es nochmals. Er «besucht» sie im
abgeschlossenen Frauenschlafraum des Transit. Sie sieht ihn kommen und kann
noch ihre Rechtsvertreterin alarmieren, die ihrerseits «die Polizei holt».
Bei einem Augenschein im Frauenschlafraum ist die Situation eindeutig. Der
Polizist wird am nächsten Morgen suspendiert, die Kantonspolizei erstattet
Anzeige. Verhaftet wird er nicht. Die Frau gibt ihre Aussage noch in der
Nacht der Polizei zu Protokoll. Einen Tag später setzt sie ihre Flucht
fort. Wäre sie geblieben, wäre sie ausgeschafft worden, lange bevor der
Bezirksanwalt eine weitere formelle Befragung hätte durchführen können.
Ausserdem hätte man von ihr doch tatsächlich verlangt, bis zur Ausschaffung
an genau dem Ort zu bleiben, an dem bereits einer der Mächtigen versuchte
hatte, sie in ihrer Notlage sexuell gefügig zu machen.
Willkürherrschaft
Mit dem Freispruch drehte das Obergericht den Spiess um: Da die Rechte der
Verteidigung (konfrontative Befragung des Opfers) nicht gewahrt worden
sind, gibt es einen Freispruch für den Täter. Der ältere Schweizer Herr,
der glaubte, er könne sich aufgrund seiner Allmacht im Transit einer jungen
Frau bemächtigen, kommt ungeschoren davon.
Was bleibt, ist das Willkürregime im Transitbereich des Flughafens, einem
Ort, wo die meisten Gestrandeten weder die hiesige Sprache können noch ihre
Rechte kennen und auch wenig Zugang zu Hilfe haben. Der Skandal, dass
papierlose Frauen vom Staat nicht geschützt, sondern verfolgt werden, wenn
sie in der Schweiz oder gar im Graubereich des Transits zum Opfer sexueller
Gewalt werden, dauert an.
augenauf Zürich
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