Bulletin Nr. 32; September 2001

Caritas verweigert die Diskussion um den Tod von Leonora M. im «Ritahaus»

Was hat die Caritas zu verbergen?

Die Asylbewerberin Leonora M. ist in der Nacht vom 19. auf den 20. Juni nach einem Selbstmordversuch gestorben. Die aus Kosova stammende Frau lebte seit ein paar Wochen in einer Caritas-Unterkunft in Luzern. Die Bemühungen von augenauf, die Caritas zu einer öffentlichen Diskussion zu bewegen, stiessen bei dieser auf Zurückweisung. Sie versucht mit allen Mitteln, den Mantel des Schweigens über der Sache auszubreiten.
Das ehemalige StudentInnenheim des Maria-Rita-Ordens im Luzerner Würzenbach, kurz «Ritahaus», ist idyllisch gelegen. Seit ein paar Jahren sind im von der Caritas gemieteten Haus an der Seeburgstrasse 35 um die 40 Asylbewerberinnen untergebracht. Sie leiden entweder unter psychischen Problemen, haben Gewalterfahrungen hinter sich oder sind allein erziehende Mütter. Auch Leonora M., Asylbewerberin aus Kosova, lebte im «Ritahaus», «weil es bei ihrem Bruder untragbar geworden war», wie Barbara Walter, Bereichsleiterin Migration bei Caritas Schweiz, sagt. M. hatte insgesamt über acht Monate in den psychiatrischen Kliniken St. Urban und Luzern verbracht und mehrere Suizidversuche hinter sich.
Am 19. Juni informierten einige Asylbewerberinnen des «Ritahauses» die Nachtwache. Leonora M. habe eine grössere Menge Tabletten geschluckt und diese erbrochen. Die Nachtwächterin alarmierte unverzüglich M.s Vertrauensarzt N. S. und schilderte diesem den Vorfall. In den folgenden Stunden wurde die Nachtwächterin von «Ritahaus»-Bewohnerinnen mehrmals über den sich kontinuierlich verschlechternden Zustand von M. informiert. Später tätigte eine der Frauen, die sich um M. kümmerten, einen Anruf ausserhalb des Hauses. Auch die Nachtwache hat telefoniert - erneut dem Arzt. Daraufhin bot dieser den Notfalldienst auf. In den frühen Morgenstunden des 20. Juni traf die Ambulanz ein. Sie konnte nur noch den Tod von M. feststellen.
 
«Politische Instrumentalisierung des tragischen Einzelfalls»
Was ist passiert? Warum vergingen Stunden zwischen dem ersten Alarmieren des Arztes und dem Eintreffen der Ambulanz? Warum hat die Nachtwächterin den Notfalldienst nicht selber gerufen, nachdem sie zur Kenntnis genommen hat, dass es M. immer schlechter ging? Hätte der Tod von M. verhindert werden können? Warum hat die Caritas die Öffentlichkeit nicht über den Vorfall informiert? Weil augenauf bei diesbezüglichen Recherchen bei der Caritas auf Granit gestossen ist, forderten wir die Caritas in einem offenen Brief dazu auf, den Fall nicht unter den Teppich zu kehren. «Unserer Meinung nach müssen die in der Flüchtlingshilfe aktiven Institutionen den Tod von L. M. zum Anlass nehmen, über die Folgen des finanziellen Druckes für die medizinische Betreuung der Asylsuchenden zu diskutieren», hat augenauf am 12. Juni zu Handen von Caritas-Direktor Jürg Krummenacher geschrieben. Dieser warf augenauf in der Entgegnung vor, «fragwürdige Zusammenhänge» zu konstruieren. Die Caritas wehre sich insbesondere gegen die «politische Instrumentalisierung des tragischen Einzelfalls». Die Caritas weise die «falschen und irreführenden Aussagen im offenen Brief der Gruppe 'augenauf'» zurück.
augenauf vertritt die Auffassung, dass der Tod von Leonora M. auf unterlassene Nothilfe der Verantwortlichen zurückzuführen ist. Insbesondere die Weigerung, den Fall an die Öffentlichkeit zu bringen, weist darauf hin. Die Caritas hüllte sich bei entsprechenden Anfragen in hartnäckiges Schweigen. «Es ist nicht im Interesse der Caritas, das an die Öffentlichkeit zu bringen», argumentiert Peter Thalmann, Koordinator für Unterbringung und Betreuung Asylsuchender der Caritas, denn «Negativschlagzeilen schaden dem ganzen Asylbereich». Caritas-Direktor Krummenacher macht die Güterabwägung zwischen dem «Schutz der Persönlichkeitsrechte» und dem «Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit» geltend.
 
Informationssperre im «Ritahaus»
Gemäss der Aussage einer Betreuerin hat die Caritas dem «Ritahaus» eine regelrechte Informationssperre verhängt: «Der aktive Besuch im Ritahaus» sei vorübergehend nicht mehr erwünscht, so Thalmann, die Verarbeitung sei abgeschlossen, man wolle das nicht mehr aufwühlen. Ausser Thalmann scheint bei der Caritas niemand befugt oder bereit zu sein, über die Sache zu sprechen. Aber auch Thalmann bestätigt nur, was augenauf-Recherchen schon ans Licht gebracht haben. Zumindest Bereichsleiterin Walter scheint aber zu wissen, dass es gewisse Ungereimtheiten gibt. Auf die Frage, warum denn der Arzt, nachdem er alarmiert worden ist, nicht gekommen sei, sagt sie: «Das kann ich mir auch nicht erklären.»
Thalmann selber scheint aber schon vor dem Ergebnis der Administrativuntersuchung zu wissen, dass dem Arzt nichts zu Lasten zu legen sei: Dieser habe sich immer ausserordentlich für M. eingesetzt. Im Verlauf des Gesprächs revidiert er seine Aussage: «Ich kann das weder dementieren noch bestätigen. Es ist nicht unser Auftrag, dies zu untersuchen.» Gemäss Thalmann hat der Arzt die Ambulanz zwar gerufen, wann genau, will er aber nicht sagen. Ja, es liege «eine gewisse Zeitspanne» zwischen der Meldung an den Arzt und dem Eintreffen der Ambulanz, bleibt er betont vage. Genau diese Zeitspanne ist aber entscheidend, wenn es darum geht, ein Menschenleben nach einem Suizidversuch zu retten. Das öffentliche Interesse an diesem Vorfall ist Thalmann sichtlich unangenehm. Nach dem Gegenlesen eines entsprechenden Artikels, der in der Wochenzeitung «Vorwärts» erscheinen sollte, kündigte er gar an, den Artikel dem Amtsstatthalteramt weiterzuleiten, weil er «strafrechtlich relevante Falschaussagen» enthalte. Der Amtsstatthalter sah sich aber nicht veranlasst, etwas zu unternehmen. Thalmanns Intervention muss als billiger Druckversuch gewertet werden, der die Veröffentlichung der Tatsachen um den Tod von Leonora M. verhindern sollte. Unverständlich ist auch, dass die Caritas partout keinen Zusammenhang zwischen solchen Einzelfällen und der aktuellen Entwicklung im Gesundheitsbereich des Asylwesens sehen will. augenauf hat im Schreiben darauf hingewiesen, dass der öffentliche Druck in den Durchgangszentren und Asylheimen BetreuerInnen dazu bringen könne, medizinische Leistungen in Eigenregie zu rationieren. Es sticht ins Auge, dass die Nachtwächterin sich im vorliegenden Fall genau so verhalten hat, wie es der Entwurf für die anstehende Asylgesetzrevision vorsieht: Gemäss der Vorlage haben Asylsuchende bloss noch über den Vertrauensarzt/die Vertrauensärztin von Krankenkassen und Behörden Zugang zu medizinischer Versorgung.

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