Bulletin Nr. 32; September 2001

Fragen zum Polizeieinsatz im Fall Cemal G.

Was ist am 3. Juli geschehen?
Was wäre passiert, wenn die Anwohner den tödlichen Einsatz der Berner Polizei gegen Cemal G. am 3. Juli 2001 nicht gefilmt hätten? Die Medien hätten dem Thema wohl kaum so viel Raum gegeben, und die Berner Polizei hätte bald wieder zur Tagesordnung übergehen können. Die routinemässige Untersuchung hätte zudem mangels Beweise vieles nicht geklärt. Jetzt, da die beklemmenden Bilder vorliegen, wird behördlicherseits den Medien Voyeurismus vorgeworfen und auf die emotionelle Kraft der Videos hingewiesen. So oder so: Der Einsatz hätte in dieser Form nie erfolgen dürfen. augenauf Bern hat denn auch zusammen mit dem Grünen Bündnis sofort per Communiqué reagiert und das brutale Vorgehen der Berner Stadtpolizei verurteilt. Zudem hat augenauf zusammen mit anderen Organisationen eine spontane Mahnwache und eine Demo gegen Polizeigewalt (mit 1000 TeilnehmerInnen) organisiert.
Das Grüne Bündnis will eine politische Debatte im Stadtrat (Legislative) erreichen, nicht nur zum tödlichen Einsatz vom 3. Juli, sondern auch über Polizeieinsätze generell. Zur Diskussion steht in diesem Zusammenhang die Forderung nach einer unabhängigen Polizeikommission nach Hamburger Vorbild.
Im August 2001 hat nun das Grüne Bündnis einen Katalog mit 88 Fragen eingereicht, der nebst der laufenden Untersuchung Klarheit in die Vorkommnisse des 3. Juli bringen soll. Der Katalog, den wir nachstehend auszugsweise abdrucken, gliedert sich chronologisch in die verschiedenen Phasen des tödlich verlaufenen Einsatzes. Der ungekürzte Fragenkatalog kann auf der Website des Grünen Bündnisses heruntergeladen werden.
 
a. Notruf/Eintreffen der «normalen» Streifenpolizei:
- Haben sich die Polizeibeamten vom Stützupunkt Bümpliz aus, resp. vor Ausrücken über die Familie informiert?
- Wer war zu diesem Zeitpunkt (vor Eindringen in die Wohnung) für die Einsatzleitung verantwortlich (Alter, Dienstgrad)?
- Haben die Streifenpolizisten sofort oder erst nach einer bestimmten Zeit Verstärkung durch weitere Streifenpolizisten aus dem Stützpunkt West angefordert? Wenn ja: wann war das? Was war der Grund? Wie viele zusätzliche Polizisten wurden angefordert und wann trafen sie ein? Was wurde mit ihnen besprochen? Wer übernahm die Einsatzleitung zu diesem Zeitpunkt? (SonntagsZeitung: «Als der Psychiater eintraf, stand ein halbes Dutzend Polizisten in der Wohnung.»)
- Wurde Cemal G. von der Polizei auf den Balkon gedrängt oder ist er selbst dorthin geflüchtet?
- Hat die Polizei bei der Ehefrau weitere Informationen eingeholt, z.B. über Schusswaffenbesitz, Krankheitszustand, Medikamente ihres Mannes?

 
b. Erstes Eintreffen des Psychiaters von Cemal G.:
- Wer hat Cemal G.s Psychiater angerufen und wann genau traf er ein?
- Wann genau ging der Psychiater mit der Familie weg? Wurde er von der Polizei aufgefordert, sofort wiederzukommen?
- Weshalb hat man nicht sofort eine andere/weitere Fachperson (Insel, Waldau) resp. einen Arzt oder die Polizeipsychologin kommen lassen?
- Weshalb wurde kein Übersetzer angefordert? Hat man sich nach Freunden erkundigt, die mit ihm reden könnten?
- Weshalb und wann wurde ein türkischer Mann zu Cemal G. durchgelassen (in die Balkontüre), resp. wie lange genau durfte er mit Cemal G. reden (Pressekonferenz: «längere Zeit») und weshalb ging er weg resp. hat man ihn weggeschickt? Konnte dieser Bekannte alleine mit Cemal reden oder stand die ganze Zeit die Polizei daneben?
- Wurde in diesem Moment oder zu irgendeinem Zeitpunkt überlegt, sich erst einmal zurückzuziehen und den Mann sich selbst zu überlassen?
 
c. Zweites Eintreffen des Psychiaters:
- Wann genau kam er nochmals? Wer hat ihm den Zutritt zur Wohnung verweigert und weshalb?
- Wer war zu diesem Punkt Einsatzleiter und war dieser darüber informiert, dass Cemals Psychiater wieder da war?
 
d. Eintreffen Sondereinheit «Stern»:
- Wer hat entschieden, die Sondereinheit «Stern» anzufordern, und wie lautete der Auftrag? (Verhaftung um jeden Preis, auch Einsatz von Schusswaffen?)
- Weshalb hat der Einsatzleiter nicht verordnet: Übung abbrechen und vorerst mal Rückzug - Abwarten, De-Eskalation, Beizug von einem Arzt, Psychiater, von Freunden, die Kurdisch sprechen etc.?
 
e. Einsatz von Zwangsmitteln
- Wann genau wurden welche Zwangsmittel eingesetzt: Pfefferspray, Blendgranate, Gummischrot, Tränengas? In welcher Reihenfolge und in welchen Zeitabständen?
- War das Tränengas CS-Gas?
- Wie gross waren die eingesetzten Mengen der jeweiligen Reizstoffe?
- Gibt es auf den Spraydosen Gebrauchshinweise, wie mit den Reizstoffen umzugehen ist (Zahl der höchstens abzugebenden Sprühstösse, Dauer eines Einsatzes, Einsatz in geschlossenen Räumen, direkter Einsatz ins Gesicht des Betreffenden)? Wenn nein, werden solche Regeln im Rahmen der Aus- oder Fortbildung vermittelt oder gibt es schriftliche Anweisungen?
 
f. Einsatz mit Schlagstöcken/Überwältigung:
- Womit war Cemal G. zuletzt bewaffnet - wenn überhaupt (das Rüstmesser hatte er offenbar verloren)?
- Wer gab den Einsatzbefehl zum Zugriff und dafür, derart gezielt und mit so viel Männern (4-5) zuzuschlagen? Gab jemand den Befehl, mit dem PMS-Griff zuzuschlagen?
- Gab es einzelne Polizisten, die Kollegen zurückhalten wollten?
- Wurden die anwesenden Polizeibeamten alle vom Untersuchungsrichter einvernommen?
augenauf Bern

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