Bulletin Nr. 23; Dezember 1998
Die «Verhältnismässigkeit» rechtfertigt alle Mittel
Die PolizistInnen haben sich in der Zwischenzeit daran gewöhnt, den
Grundsatz der Verhältnismässigkeit bereits in ihren Rapporten zu erwähnen.
Auf die genaueren Umstände dieser Verhältnismässigkeit, was genau geschah,
müssen sie dabei nicht mehr eingehen. Alles verschwindet unter der
Dunstglocke eines schwammigen Beamtendeutsch. In der Definition der
Verhältnismässigkeit halten sich die Beamten nur an die Vorgaben ihrer
Vorgesetzten und der Justiz. Ein besonders drastisches Beispiel stellt die
gescheiterte Ausschaffung des Algeriers Badiz dar. Badiz war seit dem
2.11.96 in Ausschaffungshaft. Am 8.5.97 versuchte die Zürcher
Kantonspolizei zum zweiten Mal, Badiz’ auszuschaffen – diesmal unter
Einsatz von Gewalt und Medikamenten. Die Kantonspolizei hat versucht, den
Flüchtling mit einem falschen Vorführungsbefehl aus dem Flughafengefängnis
zu locken. Als der Gefangene sich weigerte, da erst am Vortag zur
Einvernahme nach Zürich gefahren worden war und im übrigen der 8. Mai ein
Feiertag war,
wurde er von fünf Kantonspolizisten mit Gewalt aus der Zelle geschleppt.
In Genf weigerte sich Badiz den Flieger zu besteigen. Aufgrund der massiven
Gewaltanwendung im Flugzeug haben sich Funktionäre der algerischen
Fluggesellschaft geweigert, den Flüchtling nach Algier zu transportieren.
In ihrer Beurteilung des Vorfalls setzte die Zürcher Polizeidirektorin Rita
Fuhrer neue Massstäbe, indem sie die angewandte Gewalt nicht nur guthiess,
sondern auch für die weitere Zukunft als notwendig bezeichnete.
«Immer wieder versuchen Auszuschaffende, extreme Situationen
herbeizuführen, wobei List und Täuschung, aber auch rohe physische Gewalt
bedenkenlos eingesetzt werden. Dem hat die Polizei adäquat zu begegnen.
Wird darauf verzichtet, erfährt Renitenz gegen eine rechtskräftig
angeordnete Ausschaffung eine Belohnung, was längerfristig zu unlösbaren
Problemen bei der Durchsetzung des Ausländerrechts führen könnte.
Gleichwohl sind die Beamten bei der Anwendung von Zwang an den Grundsatz
der Verhältnismässigkeit gebunden, was bekanntlich den Einsatz des mindest
möglichen Mittels erfordert. Das Ziel, härteren physischen Zwang zu
vermeiden, hat die handelnden Beamten im vorliegenden Fall dazu verleitet,
sich der beanstandeten Mittel zu bedienen. In Würdigung der schwierigen
Situation und der Beweggründe der handelnden Beamten sieht die
Polizeidirektion indessen im Moment keine Veranlassung für formelle
Disziplinarmassnahmen.»
(Aus der Antwort der Vorsteherin des Polizeidepartementes des Kantons
Zürich – Rita Fuhrer – zur versuchten Ausschaffung von Badiz, 3.6.97,
zitiert aus «augenauf»-Doku «0700 Uhr übernahmen wir...»)
Die versuchte Ausschaffung eines anderen Algeriers am 8. Januar 1998
schildert die Polizei wie folgt:
«Nouredine begann stark um sich zu treten und laut zu schreien. Mit
einem kurzen, verhältnismässigen Einsatz gelang es uns rasch, ihm den Mund
zu verbinden und ihn ruhig zu stellen.» («0700 Uhr übernahmen wir ...»)
Trotz ihrer Weigerung, Disziplinarmassnahmen zu ergreifen, bat Rita Fuhrer
die von SP-Regierungsrat Markus Notter geleitete Justizdirektion, die
Vorkommnisse um die versuchte Ausschaffung von Badiz zu untersuchen. Der
zuständige Bezirksanwalt bezeichnete in seinem Bericht die von der Polizei
angewendete Gewalt nicht nur als rechtens. Er verstieg sich sogar zur
Feststellung, dass für die Gewaltanwendung einzig und allein Badiz die
Schuld zukomme. Wenn er sich nicht geweigert hätte, das Flugzeug zu
besteigen, wäre gar nichts geschehen.
Aus der Nichtanhandnahme-Verfügung der Bezirksanwaltschaft Zürich
Der Transport mit einem Personenwagen von Zürich zum Flughafen Genf verlief
ohne Probleme. Feldwebel (Fw.) K. hielt in seinem Bericht vom 20.5. fest,
Badiz habe sich zuerst geweigert, irgendein Wort von sich zu geben. Er sei
gefesselt und mit einem Kopfschutz versehen transportiert worden. Auf dem
Gebiet des Kantons Aargau habe er sein Schweigen gebrochen und um eine
bequemere Transportart ersucht. Dem sei entsprochen worden. In der Folge
habe sich ein «recht entspannter Dialog über Recht und Unrecht von
zwangsweisen Rückführungen, seinen Aufenthalt in der Schweiz und das, was
ihn in Algerien erwarten würde», ergeben. Es sei der Eindruck
entstanden, Badiz hätte sich mit seiner Rückführung abgefunden. In einer
Gemeinschaftszelle bei der Flughafenpolizei Genf, wo man ihm mit Essen und
Zigaretten versorgt habe, habe er zu verstehen gegeben, dass er vor dem
Besteigen des Flugzeuges mit dem Captain sprechen wolle und gewillt sei,
freiwillig nach Algerien zurückzukehren.
Ca. 45 Minuten vor dem planmässigen Abflug sei Badiz – in Hand- und
Fusschellen gelegt – zum Anlegeplatz des Flugzeuges der Air Algerie
gefahren worden. Der verantwortliche Pilot habe einen Kontakt mit Badiz
verweigert. Während dem Warten im Auto habe Badiz zu zittern,
unkontrolliert zu sprechen und zu schreien begonnen, sich in Hysterie
gesteigert. Weil Badiz sich geweigert habe, das Flugzeug zu besteigen,
hätten zwei Genfer Gendarmen ihn ins Flugzeug getragen. Als er und Fw K.
das Flugzeug betreten hätten, habe Badiz «ohne Unterbruch aus voller
Kehle in arabischer Sprache» geschrien. Zu viert hätten sie versucht,
ihn auf seinem Sitz festzuhalten, bzw. anzufesseln. Mit aller Kraft sei es
ihm immer wieder gelungen, «auszuschlagen», bzw. sich wegzustemmen, so dass
letzlich etwa fünf Sitzlehnen flachgedrückt worden seien. Auf verbale
Beruhigungsversuche habe Badiz in keiner Weise reagiert. Er habe deshalb
dreimal versucht,
Badiz eine Beruhigungstablette «Seresta» «in den durch sein Schreien
offenen Mund einzugeben». Badiz habe diese immer wieder herausgespuckt.
Aufgrund dieser Vorkommnisse seien sie vom Stationsmanager der Air Algerie
gebeten worden, ihr Vorhaben abzubrechen. Zudem betonte Fw. K., Badiz sei
weder von ihm, noch von seinem Begleiter oder den Genfer Gendarmen
unangemessene Gewalt angetan worden, insbesondere sei er zu keinem
Zeitpunkt geschlagen worden. (...)
Völlig klar und eindeutig kommt beim Handeln aller Polizeibeamten zum
Ausdruck, dass sie einerseits ihrer sehr oft nicht leicht zu erfüllenden
Amtspflicht unbedingt nachkommen wollten, weil sie die mit dem
obengenannten Entscheid rechtskräftig ausgesprochene Ausschaffung
vollziehen mussten. Es stand nicht im Ermessen der Beamten, den Entscheid
zu ignorieren, eigenmächtig abzuändern, die Ausschaffung hinauszuzögern
oder schlichtweg nicht auszuführen. Anderseits versuchten die
Polizeibeamten, diese Ausschaffung möglichst «schonend» zu vollziehen,
weder unnötig Gewalt anzuwenden, noch den Ausschaffungshäftling zu
verletzen oder ihm die Möglichkeit zu geben, sich selbst verletzen zu
können. Sie bemühten sich, auf H. B. beruhigend einzuwirken, alles zu
unternehmen, um ihn davon abzuhalten, sich der Ausschaffung zu widersetzen.
Sie reagierten auf das auf- und ausfällige Verhalten von H. B. ihrerseits
mit der mildesten Form. (...)
Wie bereits oben ausgeführt, versuchten die handelnden Polizeibeamten,
immer den klaren Auftrag vor sich, die Ausschaffung ohne unnötige
Gewalteinwirkung, ohne Verletzungen zu vollziehen. Sie versuchten auch, den
Ausschaffungshäftling im Gespräch zu beruhigen, kamen ihm auf dem Transport
mit der Lockerung der Fesseln entgegen, kurzum sie versuchten, den
Ausschaffungshäftling ausreisewillig zu stimmen, um eine Gewaltanwendung
und eventuell damit verbundene Verletzungen vermeiden zu können. Unter
diesem Gesichtspunkt ist die versuchte Verabreichung der Beruhigungspille,
abgesehen davon, dass diese unter den gegebenen Umständen als unbeholfen zu
werten wäre, noch als angemessen und verhältnismässig zu werten. (...)
Abschliessend halte ich fest, dass die Polizeibeamten nach dem Grundsatz
der Angemessenheit und Verhältnismässigkeit gehandelt haben. Soweit sie
Gewalt anwandten, war dies durch den Rechtfertigungsgrund der Berufspflicht
gedeckt. Anlass zum beschriebenen, angemessenen und verhältnismässigen
Handeln seitens der Polizei hat klar und eindeutig in jeder Phase der
Ausschaffungshäftling selbst gegeben. Es ist keine Strafuntersuchung zu
eröffnen.»
«Verhältnissmässig» oder «ein traumatisches Erlebnis»?
Dass ein Gefangener im provisorischen Polizeigefängnis (Propog) auf der
Kasernenwiese durch einen Wärter mit kaltem Wasser abgespritzt wurde, liess
etliche ZeitungsleserInnen zum Bleistift greifen. Sie empörten sich in der
Mehrzahl darüber, dass der Wärter überhaupt disziplinarisch bestraft wurde.
Eine kalte Dusche erachteten viele als harmlos. Auf jeden Fall sei sie
einer Zwangsbehandlung mit Medikamenten oder Spritzen vorzuziehen. Womit
sie sicher nicht unrecht haben dürften. Doch die Frage stellt sich anders.
Wer einmal im Gefängnis gesessen ist, weiss, was es bedeutet, auf Gedeih
und Verderb dem Wärter ausgeliefert zu sein, der hinter der
Gegensprechanlage sitzt. Allzu oft ist es absolut notwendig, Lärm zu
machen, um mit einer Bitte durchzukommen. Immer wieder berichten Gefangene
darüber, wie sie oder ihr Zellennachbar dringend auf medizinische Hilfe
angewiesen waren, und wie sie hängen gelassen wurden. Als nächstes würde
interessieren, weshalb der Gefangene überhaupt eine kalte Dusche erhielt,
wenn er zuvor seine Kleider scheinbar freiwillig ausgezogen hatte. Glauben
wir dem Gericht, hat sich der Wärter in jeder Form korrekt verhalten. Da er
«weder aus Jähzorn noch aus fremdenfeindlichen Motiven» gehandelt
hat, hat er den Häftling «mit dem Sprühstrahl und nicht etwa mit dem
Vollstrahl» abgespritzt. Anscheinend kamen die Vorgesetzten des Wärters
zu einem anderen Schluss: Der Angestellte wurde fristlos aus dem Dienst
entlassen. Gegen zwei weitere Wärter und einen Polizisten wurde ein
Disziplinarverfahren eingeleitet, weil sie nichts unternommen hatten, um
die Dusche zu verhindern. Den Vogel schiesst der Einzelrichter mit der
Behauptung ab, der Gefangene hätte zum eigenen Schutz abgespritzt werden
müssen, denn sonst hätten ihn die Mitgefangenen beim nächsten Spaziergang
verprügelt. Genau das Gegenteil ist der Fall. Wenn es den Mitgefangenen zu
bunt wird, so schlagen sie meistens ebenfalls Radau, damit sich etwas
bewegt – zumindest der diensthabende Wärter.
Interessant ist ein weiterer Punkt. In diesem Fall beurteilt das
Bezirksgericht Zürich den Einsatz von Medikamenten oder Spritzen unter
Zwang als «erheblichen Eingriff» (TA 28.5.98). Zu Beginn des
Prozesses hiess es sogar, dass «solche Zwangsspritzen für die
Betroffenen ein traumatisches Erlebnis sind» (TA 22.5.98). Knapp zwei
Monate früher hat ein anderer Bezirksanwalt im Falle von Badiz
festgestellt: «...ist die versuchte Verabreichung der Beruhigungspille,
abgesehen davon, dass diese unter den gegebenen Umständen als unbeholfen zu
werten wäre, noch als angemessen und verhältnismässig zu werten.» (TA
22.5.98; TA / NZZ 28.5.98)
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