Bulletin Nr. 23; Dezember 1998

«In den Händen der Regierenden heisst die Gewalt Recht, in den Händen des Einzelnen heisst die Gewalt Verbrechen»

Lässt sich die institutionelle Gewalt der Polizei nicht mehr leugnen, so muss sie halt anders legitimiert werden. «Verhältnismässig», «das mildeste Mittel», «der Situation angepasst» heissen die Zauberwörter der Rechtfertigung. «Soweit sie Gewalt anwandten, war dies durch den Rechtfertigungsgrund der Berufspflicht gedeckt». «Ihr Ziel war es, im Sinne der Amtspflicht, den passiven Widerstand zu brechen». Solche Stellungnahmen sind alarmierende Zeichen. Sie kommen Freipässen für die Polizei gleich. Der Zweck heiligt schliesslich die Mittel. Es ist der letzte Schritt, um Polizeigewalt um jeden Preis zu rechtfertigen und eine Aufforderung an alle PolizistInnen, nur nicht zu zimperlich in der Wahl ihrer Mittel zu sein.
Zwei zivile Fahnder der Kapo sind auf der Suche nach Taschendieben und beschliessen, zwei Männer zu kontrollieren. Von hinten nehmen sie je einen der Männer in den Würgegriff. Während der erste Polizeibeamte seinen Verdächtigen überwältigen kann und ihm Handschellen anlegt, wehrt sich der andere erfolgreich gegen die überraschende Attacke durch die Fahnderin. Der in Selbstverteidigung geschulte Mahmud dreht sich aus dem Polizeigriff und stösst die zivile Beamtin um. Er habe gedacht, er werde überfallen. Die Fahnderin verliert im Fallen ihre Pistole. Mahmud ergreift die Waffe und lädt sie durch, wobei sich eine Patrone im Lauf verklemmt. In diesem Moment versucht der zweite Fahnder seiner bedrängten Kollegin zu helfen und packt Mahmud nochmals von hinten. Wieder gelingt es diesem, sich aus dem Würgegriff zu befreien. Während er nach der Polizei ruft und der Fahnder seinerseits zur Waffe greift, dämmert Mahmud, dass er keine Räuber, sondern Polizisten vor sich hat. Er legt die Waffe nieder und wird von den Beamten unter Einsatz eines Pfeffersprays überwältigt. Bis zur Gerichtsverhandlung bleibt er in Haft. Der ursprüngliche Verdacht, er sei ein Taschendieb, erweist sich als haltlos.
Bei der Kapo betrachtete man das Vorgehen bei der Personenkontrolle als Einzelfall. Die im Urteil enthaltene Kritik werde zur Kenntnis genommen, teilte ein Pressesprecher mit. Man sei allerdings davon überzeugt, dass die Beamten gute Gründe für ihr Vorgehen gehabt hätten. Zwar sehen die Instruktionen der Kapo vor, dass man sich zu Beginn einer Kontrolle klar zu erkennen gebe, aber der Alltag lasse sich eben nicht durch Buchstaben regeln. Heutzutage seien viele Verbrecher bewaffnet und gewaltbereit. Das Vorgehen der Fahnder deute darauf hin, dass man die Verdächtigen nach längerer Beobachtung unbedingt habe kontrollieren wollen und sie für gefährlich gehalten habe. (NZZ 19.11.97)
In den Augen des Presssprechers ist es also angemessen, zwei Personen ohne Vorwarnung von hinten anzufallen und zu Boden zu reissen. Selbst die Tatsache, dass der Überfallene am 7. Oktober vom Obergericht freigesprochen wurde und finanzielle Genugtuung und Schadenersatz zugesprochen erhielt, ändert nichts daran, dass das Polizeipärchen weiterhin straflos seinen Dienst versieht. Was die Duldung körperlicher Gewalt bewirkt, zeigen die folgenden Berichte von Skatern und VelokurierInnen über ihre Kontakte mit Beamten der Kreiswache 7. Obwohl die Verantwortlichen der Polizei über die Vorfälle informiert wurden, unterblieben weitere Schritte. Was von den betreffenden Polizisten offenbar als Ermunterung aufgefasst wurde, mit ihrem Treiben fortzufahren.
 
«Verfolgen kann man ja bekanntlich nur jemanden, der flüchtet»
«Es war ein megaschöner Samstag», erinnert sich Moritz. Sein Bruder Lukas und er waren auf dem Heimweg. Weil die Sonne schien, beschlossen sie, mit der Forchbahn noch zwei Stationen weiterzufahren, um dann «abe z’fätze». Wenn immer möglich tollen die beiden auf der Strasse. «Das Skaten auf dem Trottoir ist megagefährlich. Wegen der Fussgänger und der parkierten Autos.» Nach 50 Metern kam den Skatern ein Streifenwagen entgegen. Das Polizeiauto wendete abrupt und schnitt Lukas den Weg ab. «Es war wie in Miami Vice. Zum Glück kann Lukas so gut skaten, sonst wäre er voll ins Polizeiauto gerast», erzählt Moritz. Die Polizisten schrieben einen Rapport. Plötzlich tauchte das Polizeiauto auch neben Moritz auf. «Die haben mich an den Rand gedrängt. Ich konnte weder bremsen noch auf das Trottoir ausweichen, weil es dort Ketten hatte. Eine extrem gefährliche Situation», erzählt der 23jährige. «Wenn es mich hingeknallt hätte, wäre ich tot.» Bei der ersten möglichen Gelegenheit bog er rechts ab, um abzubremsen.
«Die dachten, ich wolle abhauen und schnitten mir den Weg ab.» Moritz fiel über die Kühlerhaube des Polizeiautos und landete unsanft auf dem Boden.
Sind die Stadtpolizisten auf Skaterjagd? «Wenn ein Polizist im Streifenwagen einen Skater auf der Strasse sieht, muss er ihn anhalten, weil Spiel und Sport dort verboten sind. Verfolgen kann man ja bekanntlich nur jemanden, der flüchtet. In der Regel aber machen wir keine Jagd auf Skater», sagt Polizeisprecher Kistler. (TA 23.4.98)
Der Pressesprecher der Stadtpolizei gibt den Tarif bekannt: Wer von der Polizei über den Haufen gefahren wird, muss zuvor geflüchtet sein. Anders wäre der Einsatz beim besten Willen weder zu rechtfertigen noch zu erklären. Bei Flüchtenden sind schliesslich alle Mittel erlaubt. Nur: Wer hat Recht? Zwei Polizisten, die sich absprechen konnten, oder der/die Geschädigte – sofern er/sie noch sprechen kann?
In ruhigeren Quartieren scheinen sich einige Beamte der Kreiswachen speziell zu langweilen. Sie holen sie sich ihren Adrenalinschub dort, wo es möglich ist. VelofahrerInnen – nicht nur KurierInnen – können ein eigenes Lied über gemeingefährliche Einsätze von Polizisten der Kreiswachen in Wollishofen, dem Seefeld und Hottingen singen.
 
Wer nicht anhält, wird angefahren
Der Velokurier Erich überfährt beim Kunsthaus zweimal ein Rotlicht. Den Streifenwagen hinter sich bemerkt er nicht. Kurz vor dem Bellevue überholt ihn die Streife mit hohem Tempo und schneidet ihm den Weg ab, Der Fahrer hüpft vor Erich auf das Trottoir. Erich versucht zu wenden und abzuhauen, erwischt aber den falschen Gang und gibt auf. Ein junger Beamter – Polizist Freimüller von der Kreiswache 7 – hechtet aus dem Streifenwagen, rennt Erich nach und wirft sich auf ihn, so dass beide zu Boden stürzen. Nun gesellt sich der ältere Fahrer (Peter) hinzu und hilft beim Schütteln und Stossen.. Sie treten Erich sogar in die Waden und die Kniekehle.´
Um die Identität von Erich zweifelsfrei festzustellen, nehmen sie ihn mit auf die Kreiswache. Dort kommen die Beamten sogar ins Plaudern. Sie würden alle «ineneh», und wer nicht anhalte, «den würde ich anfahren», sagt Freimüller. Erschrocken fragt Erich nach: Das sei ja unverantwortlich, einen Velofahrer womöglich in der Panik unter einen Lastwagen zu jagen oder gar zu überfahren. «Das ist dann nicht mein Problem», erwidert Freimüller. Er habe das schon gemacht, behauptet er, und «es ist nichts passiert.»
Tatsächlich. Erich weiss von einem weiteren Fall. Mitte August 1997 überfährt eine Velokurierin beim Kunsthaus zwei rote Ampeln und fährt Richtung Hottingerplatz. Sie bemerkt, dass sie falsch gefahren ist, und wendet auf dem Trottoir. Dabei sieht sie eine Polizeistreife, die es auf sie abgesehen hat. Sie überlegt nicht lange, sondern haut ab Richtung Central. Doch bereits bei der Haltestelle des Dreiers holt die Streife sie mit Blaulicht ein, und schneidet ihr so den Weg ab, dass sie nur noch voll bremsen kann. Sie steigt vom Fahrrad und gibt sich geschlagen. Weil sie keinen Ausweis auf sich hat, wird sie im Kastenwagen auf den Posten der Kreiswache 7 mitgenommen. Wieder im Polizeiauto ist erneut der Beamte Freimüller. (augenauf-Bulletin 21: Velokuriere als Freiwild -Gedächtnisprotokoll vom 19.9.97)
Velokurier Erich schickte sein Proktokoll an folgende Personen: Stadtrat Neukomm, Stadtpräsident Estermann, den Kommandanten der Stadtpolizei sowie deren Rechtsdienst. Konfrontiert mit der detaillierten Schilderung des Velokuriers geben die Angeschriebenen den Ball immer weiter, bis zum Schluss das Verfahren eingestellt wird. Wegen der altbekannten Aussichtslosigkeit einer Anzeige beschränkte sich Erich von Anfang an darauf, den Vorfall den Vorgesetzten mitzuteilen, in der Hoffnung, so wenigstens intern etwas zu bewirken. Doch weit gefehlt. Die Jagd auf Skater (siehe oben) geht weiter. Ein halbes Jahr später kommt es wieder durch eine Streifenwagenbesatzung der Kreiswache 7 zu einem ähnlichen Vorfall. In der Antwort des Stadtpräsidenten wird Erich aufgefordert, sich gefälligst an die Verkehrsregeln zu halten. Das Verhalten der Polizisten findet Estermann nicht kritikwürdig:
«Ich möchte Sie deshalb bitten, Ihre Vorwürfe direkt an die Adresse des Polizeidepartementes zu richten, das die Angelegenheit nach Rücksprache mit den Direktbetroffenen überprüfen und einen allfälligen Polizeiübergriff untersuchen kann. ... die schnellen Pedaleure, die für eine prompte Güterzustellung sorgen, verdienen Respekt und Anerkennung. Die Dringlichkeit des Auftrages ist aber keine Rechtfertigung für eine eigenmächtige Ausserkraftsetzung der Verkehrsregeln.» (20.10.97)
Auch für den Rechtsdienst der Stapo erledigt sich die Geschichte damit, dass Erich keine Anzeige erstattet hat und er sein «eigenes Fehlverhalten» anerkennt.
«Sie schilderten die Kontrolle schikanös und unverhältnissmässig, anerkannten aber gleichzeitig ihr eigenes Fehlverhalten im Strassenverkehr. Da sie Ihre Zuschrift nicht als Beschwerde behandelt sehen wollen, sondern damit nur den Vorfall zur Kenntnis bringen wollen, verzichten Sie auf die versehentliche Aufforderung unserer SPK 1, eine Vollmacht in eigener Sache einzureichen oder zu protestieren. Ihrem heutigem Wunsch beantragen wir beim Polizeivorstand die Verfügung ad acta.» (11.11.97)
 
Dunkelhäutige Menschen müssen jederzeit damit rechnen, kontrolliert und angefallen zu werden
Die oben zitierten Antworten gehören zu den milderen. Leider können wir mehrere Fälle nicht dokumentieren, in denen Betroffene vom ehemaligen Polizeivorstand Neukomm persönlich Antwort erhielten. Diese Personen haben Angst, noch grössere Probleme zu bekommen, wenn sie darauf bestehen, dass die Übergriffe gegen sie untersucht werden. In einem uns vorliegenden Antwortschreiben droht Neukomm einem Staatsangestellten indirekt, aber unverhohlen mit Entlassung, falls er sich weiterhin für zwei ausländische Jugendliche einsetzen würde, die allein aufgrund von rassistischen Vorurteilen in Polizeihaft genommen und beim Verhör übel behandelt worden waren. In einem anderen Schreiben bestätigt Neukomm, dass dunkelhäutige Menschen jederzeit damit rechnen müssen, sich auf offener Strasse – vor ihrem Haus – ausziehen zu müssen oder auf die Wache mitgenommen zu werden. Wer protestiert oder darauf besteht, den Ausweis in der nahen Wohnung zu holen, muss sich nicht wundern, wenn er geschlagen, zu Boden geworfen und getreten wird. Neukomm ist verantwortlich zu machen, wenn eine Frau in der Innenstadt der Suche nach einem Parkplatz mit ihrem Kleinkind verhaftet wird, weil ihr Mann Afrikaner ist. (WoZ 23.4.98)
Neukomms Schweigen geht Hand in Hand mit der Praxis des Bezirksgerichts Zürich, welches Polizeigewalt bereits auf Grund eines «vagen Verdachts» als gerechtfertigt bezeichnet. Im Gerichtssaal verwandelt sich der Sturz von der Treppe zu einem Fluchtversuch, der als Grund für einen Polizeieinsatz dient.
Der Richter untersuchte im Prozess nur noch, ob die Beamten überhaupt berechtigt waren, den Kameruner auf die Wache zu nehmen. Im Urteil wird diese Frage bejaht. Immerhin habe gegen den Mann ein «vager Verdacht auf Beteiligung am Drogenhandel» bestanden, weil er sich zur falschen Zeit im falschen Haus befand. Die von ihm vorgewiesenen Papiere seien als Ausweis nur beschränkt geeignet gewesen. Da auch das Anlegen von Handschellen «nicht offensichtlich unverhältnismässig» gewesen sei, hatte der Kameruner kein Recht zur Flucht. (NZZ 13.7.98)
Nach der Veröffentlichung dieses Artikels meldete sich eine im Kanton Zürich wohnende Schweizerin beim Bezirksgericht mit dem Angebot, die Busse des jungen Kameruners zu bezahlen, weil «500 Franken viel bedeuten für einen Arbeitslosen». Die Antwort des Bezirksgerichts lautete: «Als Strafe trifft die Busse den Verurteilten persönlich. Das Bezahlen der Busse durch einen Dritten ist deshalb nicht zulässig. Über den Aufenthalt des Kameruners dürfen wir keine Auskunft erteilen.» Auch die nochmalige Bitte der Frau, ihr wenigstens die Adresse des Anwaltes zu nennen, damit sie mit diesem in Kontakt treten könne, wurde mit Verweis auf das Amtsgeheimnis abgelehnt. Die eben geschilderte Gerichtspraxis ist eine nach oben offene Skala. Je stärker der Verdacht, desto härter die erlaubten Mittel. Alles ist inzwischen erlaubt, denn: Wer von der Polizei angefallen oder erschossen wird, muss gefährlich gewesen sein, sonst wäre er ja nicht...

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