Bulletin Nr. 22; September 1998

Genf: Misshandlungen in Polizeigewahrsam

Vom 16. bis zum 20. Mai fand in Genf eine Ministerkonferenz der WTO (World Trade Organization) statt. Diese Konferenz wurde von weltweiten Protesten gegen den neoliberalen Umbau der Weltwirtschaft begleitet. So gab es auch in Genf am 16. Mai eine grosse Demonstration von WTO-GegnerInnen und für die folgenden Tage war zu Protest- und Störaktionen aufgerufen worden. Die Nacht vom 16. auf den 17. Mai wurde sehr unruhig. Es kam zu zahlreichen Sachbeschädigungen, die wohl eher mit der starken Repression gegen besetzte Häuser in den vergangenen Monaten zu tun hatten als mit den Anti-WTO-Aktivitäten und, im Gegenzug, zu massiven Tränengaseinsätzen, die sich dann allerdings ganz gezielt gegen ein Camp der WTO-GegnerInnen richteten. In den nächsten Tagen versuchten die in Genf anwesenden starken Polizeikräfte mittels Massenverhaftungen jegliche Störung der Konferenz zu verhindern. Bis zum 28. Mai wurden nach Polizeiangaben 287 Menschen verhaftet, Augenzeugen berichteten von unzähligen weiteren Personenkontrollen und kurzzeitigen Mitnahmen durch die Polizei. Über die Behandlung während den Verhaftungen und in Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft liegt uns eine ganze Reihe von Zeugenberichten vor. Wir zitieren im folgenden aus diesen Berichten, weil uns die Leichtigkeit auffiel, mit der die angeblich liberale Genfer Polizei Grenzen überschritt. Es wurden Methoden angewendet, die als Vorstufe zur gezielten Misshandlung (Folter) von Gefangenen angesehen werden können. Dazu gehören: Verweigerung der Rechtsmittelbelehrung, Verweigerung von ÜbersetzerInnen bei Verhören, Verweigerung der Kontaktaufnahme nach aussen, physische Misshandlung und Demütigung (stundenlanges Stehenlassen, Verweigerung der Toilette) und sexuelle Belästigung (Zusehen von männlichen Wärtern und Polizisten beim Duschen von weiblichen Gefangenen).

 
Aus dem Protokoll einer Genfer Verhaftung und der folgenden Untersuchungshaft
«... Sie stiessen uns in einen bereitstehenden Knastwagen, in den sie zunehmend mehr Verhaftete brachten. Schlussendlich war der Wagen mit mindestens zwölf Personen – die teilweise aneinandergekettet waren – überfüllt. Nach einer ca. ¾-stündigen Fahrt brachten uns die Bullen in eine Tiefgarage und liessen uns dort eine halbe Stunde ohne Frischluftzufuhr stehen. ... Auf unser Nachfragen, wie lange das Ganze noch dauere, vertröstete man uns mit falschen Informationen und es wurde immer wieder behauptet, wir würden bald frei sein. ...
Nach sieben bis zwölf Stunden eröffnete uns ein Commissaire de Police, der ausschliesslich französisch sprach (keinE ÜbersetzerIn), dass wir innert 24 Stunden einem Haftrichter vorgeführt würden und solange in ein Gefängnis gesteckt werden. ... Bevor wir getrennt in Zellen untergebracht wurden, mussten wir unter Aufsicht von zwei agressiven Wärterinnen duschen, während in der Türe ein Aufseher stand und uns Frauen beim Duschen zusah. Unsere Aufforderung, die Türe zu schliessen oder den Typen wegzuschicken, wurde mit Drohungen beantwortet und der Kerl konnte weiter zuschauen. ...»

 
Aus dem Bericht von deutschen Mitgliedern der Karawane ‘Geld oder Leben’
Die Karawane ‘Geld oder Leben’ reiste als Velo- und Wagenzug von Lüchow nach Genf, um unterwegs über die WTO zu informieren und in Genf an den Protest- und Widerstandsaktionen teilzunehmen. Die TeilnehmerInnen wurden aber bereits in Oberwangen wegen einer angeblichen Sachbeschädigung verhaftet. Die deutschen TeilnehmerInnen der Karawane wurden ausgeschafft.
«... Auch die Polizisten ignorierten unsere Anfragen und Bitten, so nach einem Arzt wegen einer Verletzung am Finger, nach Medikamenten, die jemand regelmässig einnehmen musste, genauso wie nach Essen oder Decken, weil es kalt im Raum (Zivilschutzbunker) war und wir als Radfahrer draussen in der Sonne nur leicht bekleidet waren. ... Einige Sachen waren auch ganz verschwunden, so z.B. eine Tasche mit einem tragbaren Computer. Es gab weder Quittungen noch eine Liste, was alles beschlagnahmt wurde.»
 
Gedächtnisprotokoll einer Verhaftung am 17. Mai 1998 in Genf
«Ich wollte um 21.30 die Grenze in Moillesulaz/GE mit dem Fahrrad überqueren. Ich wurde von zwei Zöllnern angehalten und musste meinen Ausweis abgeben. Darauf musste ich ins Zollhaus mitgehen und wurde aufgefordert, meine Effekten auf einen Tisch zu legen. Drei andere Personen mussten das gleiche tun. Nach ca. einer Minute stürmten etwa dreissig Polizeigrenadiere (insgesamt waren sicher 50 um das Zollgebäude postiert) den Raum, alle in voller Montur. Wir wurden sofort in Handschellen gelegt (ich hatte richtige, die anderen drei jedoch Kabelbinder), obwohl sich niemand der Verhaftung widersetzte. Unsere Fragen nach dem Grund dieses Überfalls wurden nicht beantwortet. Danach wurden wir in einem Kleinbus der Polizei durch das Genfer Umland gefahren. Ein Mitgefangener schrie, weil ihm die Kabelbinder einschnitten, doch die Polizisten sagten nur, das sei gut so. Ich sagte nichts, aus Angst, sie würden noch enger zuziehen. Wir wurden dann in einer Tiefgarage ausgeladen. Dort standen etwa 10 Leute, jeweils zu fünft Handgelenk an Handgelenk um einen Betonpfeiler gefesselt. Sie gaben an, schon bis zu drei Stunden hier in der Kälte zu warten. ... Auf meine Fragen erhielt ich nur ausweichende Antworten. Die Beamten weigerten sich, ihre Namen anzugeben. Sie sagten nicht, wo wir sind, warum wir verhaftet wurden und wie lange es noch dauern würde. Wir erhielten auch keine Decken. Telefonieren konnten wir auch nicht.»
 
«Bericht über unsere Festnahme am Montag den 18. Mai 1998»
«... Man sagte uns, wir werden an einen speziellen Ort gebracht, sonst nichts. ... Wir fuhren in eine Tiefgarage. Das erste, was wir sahen, war, dass ca. acht Menschen mit Handschellen rund um einen Betonsäule gekettet sind. Das heisst, sie standen mit dem Rücken rund um eine Betonsäule gekettet, und eine Person war mit der Hand einer anderen Person mit Handschellen verbunden. ... Wir waren über fünf Stunden an diese Säule gekettet. ... Sie haben uns in der Zeit, wo wir an die Säulen gekettet waren, eine Flasche Wasser, einen Apfel und eingeschweisste Schinkenbrote gebracht. Aber wie soll man die Sachen essen, wenn man mit beiden Händen an eine jeweils andere Person gefesselt ist, die ihre Hände auch benützen möchte? ... Des weiteren konnten wir auch keine Toilette benützen, so dass einer von uns ins Parkhaus pissen musste. Und wenn man sagte, dass die Handschellen zu fest sind, war die Reaktion, dass sie noch fester angezogen wurden. ... Dann wurden Frauen/Männer in verschiedene Räume eingeschlossen. Verdreckter Fussboden, kalt, keine Matratze, keine Decken, nichts. ... Telefonieren war nicht möglich. Selbst Minderjährigen wurde verweigert, ihre Eltern anzurufen.»
 
Aus einem Fragebogen der Genfer Anti-Repressionsgruppe
«Hast Du die Polizei aufgefordert, jemanden über Deine Verhaftung zu informieren?» «Ja, im Knast (Champ d’Ollon) auch schriftlich mit dem dafür bestimmen Formular. Meinem Wunsch am sechsten Tag der U-Haft, telefonieren zu können, wurde nicht entsprochen.»
 
Nachtrag
Laut einem Bericht der Zeitung ‘Vorwärts’ vom 14. August 1998 hat die Bundesanwaltschaft etwa 500 Personen im Zusammenhang mit den WTO-Protesten im Berner Staatsschutz-Computer ISIS registriert. Bei diesen Einträgen gilt als sichere und richtige Information, dass es sich bei diesen 500 um TeilnehmerInnen einer gewalttätigen Demonstration handelt. Der ‘Vorwärts’ schätzt, dass allein im letzten halben Jahr um die 16’000 Vorgänge in die Staatsschutz-Datenbank der Bundespolizei aufgenommen worden sind.

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