Bulletin Nr. 20; November 1997

Eine Chronologie der Ereignisse

Der Hungerstreik im Ausschaffungsgefängnis Kloten hat recht grosse mediale Wellen geworfen. Obwohl in einigen wenigen Medien die Gefangenen selbst kurz zu Worte gekommen sind, war die hauptsächliche Informationsquelle Gefängnisdirektorin Ludwig – entsprechend waren die Berichte. Wir dokumentieren hier deshalb ganz genau den Ablauf des Hungerstreiks, um ein Bild der Ereignisse, wie die Gefangenen sie uns übermittelten, zu zeichnen.

 
29.10.97
Ein Ausschaffungsgefangener telefoniert einem augenauf-Mitglied. Aufgelöst und aufgeregt berichtet er, dass viele Häftlinge am Durchdrehen seien, sie würden sich umbringen – auf jeden Fall wollen sie einen Hungerstreik machen gegen die drohenden Ausschaffungen nach Algerien und Kosova.
Auslöser war ein «Sachbearbeiter» der Kantonspolizei, der am Dienstag während dem Verhör einem algerischen Mann damit gedroht hatte, dass das Charter-Flugzeug bereit sei, um ihn und andere algerische Ausschaffungsgefangene nach Algerien zu fliegen.
 
30.10.
Einer Besucherin übergeben Gefangene Briefe, die veröffentlicht werden sollen, um ihren Hungerstreik zu begründen. Auf einer von den Gefangenen aufgestellten Liste ist die Rede von 12 Algeriern, 25 Albanern und 4 Pakistani, die am Samstag, dem 1.11., in den Hungerstreik treten wollen.
Wir von augenauf entschliessen uns, in einem eigenen Communiqué den Hungerstreik der Presse mitzuteilen und als Stimme der Gefangenen zu wirken.
 
31.10.
Um 8.30 telefoniert K. – er ist aus Kosova – aus Kloten. Er sagt, sie würden definitiv morgen mit dem Hungerstreik beginnen. Er selber müsse heute zum Haftrichter nach St. Gallen, da er als Asylbewerber diesem Kanton zugeteilt worden war.
11.30 telefoniert O. – ein algerischer Mann – und berichtet, «c´est le bordel ici» – und die Leute würden jetzt dann nichts mehr essen. Nein, nicht heute, morgen.
Besuche für den Samstag, dem 1.11. können problemlos abgemacht werden.
 
Aus dem Pressecommuniqué von augenauf:
«Ab Morgen Samstag, 1.11.97, treten 44 Gefangene aus Algerien, Albanien, Kosova und Pakistan im Ausschaffungsgefängnis Kloten in den Hungerstreik. Sie verweigern die Nahrung aus Protest gegen die allen ständig drohende Ausschaffung. Insbesondere fordern sie einen Ausschaffungsstop in Kriegsgebiete wie Algerien und Kosova.....Die Gefangenen protestieren mit ihrem Hungerstreik auch gegen die schwere psychische Belastung der Ausschaffungshaft. Sie sind eingeschlossen, ohne vorher eine Straftat verübt zu haben. Ein Gefangener schreibt in einem Brief, der augenauf ebenfalls gestern erreichte: «Wir brauchen Hilfe. Neun Monate sind sehr lang und psychisch ein Terror.» augenauf schliesst sich den Forderungen der Hungerstreikenden an und fordert einen sofortigen Ausschaffungsstopp sowie die Freilassung der Ausschaffungsgefangenen. Ausserdem fordert augenauf die Gefängnisleitung von Kloten auf, keine psychiatrische Zwangsbehandlung anzuwenden, keine Verlegungen vorzunehmen und den Gefangenen ihre Kommunikationsmöglichkeiten offen zu halten. augenauf ruft die MedienvertreterInnen sowie VertreterInnen humanitärer Organisationen auf, mit den Hungerstreikenden selbst zu reden, um so authentisch über deren Situation berichten zu können. Wir geben auf Anfrage telefonisch Namen von Hungerstreikenden bekannt, die besucht werden können. Besuche in Kloten können unter der Nummer 01/804 29 61 beantragt werden.»
Erwartungsgemäss folgen dem Pressecommuniqué viele Telefonanrufe. Doch die allermeisten JournalistInnen geben an, zu wenig Zeit zu haben, um selber nach Kloten zu gehen, und wollen partout die Infos direkt von augenauf. Ein Beispiel des schleichenden alltäglichen Rassismus: AusländerInnen werden nicht wahr- und ernstgenommen, sie erhalten keine Stimme oder werden nur über vermittelnde Gruppen von weissen Einheimischen definiert.
 
1.11.
Gemäss Angaben der Ausschaffungsgefangenen sind im 4.Stock 26 Leute im Hungerstreik, im 3.Stock sind es 15 Personen.
Samstagsspaziergang von 17 Leuten zum Gefängnis Kloten II, um ihre Solidarität mit den Hungerstreikenden zu demonstrieren.
K., der als Sprecher für die albanischen Leute aufgetreten ist, kam nicht mehr aus St.Gallen zurück. Wo er sich momentan befindet, ist nicht bekannt.
Ein Journalist der SonntagsZeitung (SoZ) macht einen kurzen Besuch in Kloten II und spricht kurz mit einem afrikanischem Mann.
 
2.11.
Am Telefon schildert O., dass beim Besuch des Journalisten der SoZ bereits alle in den Zellen gewesen seien, da am Samstag der Umschluss früher aufhöre. O. bestätigt, dass im 4. Stock noch 21 Leute im Hungerstreik seien, vom 3. Stock wisse er nichts. Die Kontakte laufen nur über Rufe während dem Spaziergang. Durch die erhöhte Anzahl an Wärtern, die auf den Stöcken patroullieren und jegliche Rufversuche unterbinden, ist der Kontakt zwischen den Stockwerken unterbrochen. Im 4. Stock möchten sie mit einem Verantwortlichen von der Frepo oder vom BFF reden - und das solle morgen der Fall sein.
Nach dem Ende des Hungerstreikes erfahren wir, dass ab heutigem Datum im 2. Stock, wo die Gefangenen in Einzelzellen sitzen, acht afrikanische, 3 palästinensische und mehrere albanische, irakische und libanesische Männer sich ebenfalls dem Hungerstreik angeschlossen hatten.
Ebenfalls erfahren wir erst dann, dass einzelne Gefangene den Hungerstreik bereits nach zwei Tagen abgebrochen hatten, da die Gründe für den Hungerstreik unklar waren. Vor allem die Leute im 2. Stock wussten kaum, wofür und für wen gestreikt werden sollte und welches die Forderungen waren.
 
3.11.
M. berichtet telefonisch, dass 30 Albaner im Hungerstreik seien, zusammen mit 21 Algeriern, einem Afrikaner und 4 Pakistanis, die auf allen Stöcken verteilt seien.
Besuche für den nächsten Tag können problemlos abgemacht werden. Allerdings hat der Justizdirektor des Kantons Zürich, Notter, am Mittag ein Medienverbot über Kloten II verhängt. Die JournalistInnen haben ab sofort keinen Zutritt mehr. Ihre einzige Kontaktperson im Gefängnis: Die Direktorin Ludwig.
 
4.11.
Aus der Medienerklärung von augenauf:
«Der Hungerstreik geht weiter
Die Zahl der Hungerstreikenden beträgt nach Angaben der Gefangenen deutlich mehr als die von der Gefängnisleitung behaupteten 21. Eine genaue Zahl kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht genannt werden, da die Kommunikation unter den Gefangenen schwierig ist. Wir gehen nach den uns vorliegenden Informationen aber davon aus, dass sich den anfangs zum Hungerstreik bereiten 44 Personen noch weitere angeschlossen haben... augenauf protestiert in diesem Zusammenhang gegen die Anweisung von Regierungsrat Notter, den Kontakt der Hungerstreikenden mit Medienleuten zu unterbinden. Wir rufen die MedienvertreterInnen auf, gegen die Behinderung ihrer Berufsausübung zu protestieren.
Anspielungen von Gefängnsidirektorin Barbara Ludwig im Tages Anzeiger vom 3.11., augenauf hätte den Hungerstreik der Gefangenen "orchestriert", bzw. würde die Gefangenen "instrumentalisieren", weist augenauf entschieden zurück. Die Hungerstreikenden hatten – angesichts ihrer verzweifelten Lage – Anlass genug, um selbst zu entscheiden. Wir wurden von ihnen am Donnerstag über den geplanten Hungerstreik informiert und gebeten, ihre Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen. Deshalb informierten wir am Freitag die Medien über die geplante Aktion.
augenauf fordert den Zürcher Regierungsrat auf, sich beim Bundesrat für einen sofortigen Ausschaffungsstopp nach Algerien und Kosova einzusetzen. Bezüglich Algerien geht es zum jetzigen Zeitpunkt nicht darum, die geplanten Ausschaffungen „zu überprüfen“, wie das Regierungsrat Notter in einem Interview fordert, sondern sofort einzustellen. Die Massaker, Folterungen und das Verschwindenlassen, welche beiden Kriegsparteien angelastet werden müssen, erfordern klare Taten.»

Die Asylkoordination Schweiz, die Bewegung für eine offene und demokratische Schweiz (BODS), das Schweizerische Arbeiterhilfswerk (SAH), das 'Mouvements des sans-papiers' aus Lausanne, das 'Centre Suisses-Immigres/SOS-Racisme', Fribourg, ACOR, Genf und das 'Syndicat interprofessionels des travailleuses et travailleurs', Genf solidarisieren sich in einem gemeinsamen Pressecommuniqué mit den Hungerstreikenden und ihren Forderungen.
augenauf veröffentlicht einen zusätzlichen Solidaritäts-Aufruf:
«Seit dem 1.11. kämpfen Gefangene im Ausschaffungsgefängnis in Zürich-Kloten mit einem Hungerstreik für einen Ausschaffungsstopp. Am Streik beteiligen sich insbesondere Flüchtlinge und Sans-Papiers, die nach Algerien oder in den Kosova ausgeschafft werden sollen. Wir unterstützen die Forderungen der Gefangenen und fordern die Freilassung der Hungerstreikenden. Wir protestieren gegen die mit immer mehr Gewaltanwendung verbundenen Zwangsausschaffungen. Wir fordern von den Behörden von Bund und Kantonen:
- den Verzicht auf jede Form der Gewaltanwendung (Schläge, Knebelung, Fesselung) bei der Ausschaffung
- den Verzicht auf Massenausschaffungen mit Charterflugzeugen
- den Stopp des Einsatzes von Psychopharmaka und Neuroleptika während dem Ausschaffungsverfahren und des Vollzuges der Ausschaffungen mit Hilfe von Ärzten
- den Verzicht auf Zwangsmittel bei der Beschaffung von Reisepapieren
- das Ende der direkten Zusammenarbeit der für die Ausschaffung zuständigen Stellen mit den Polizeibehörden in Algier und Belgrad.»

Im 4. Stock kommt es zu einer kleinen Schlägerei. In der Folge werden alle Gefangenen in ihre Zellen gesperrt, die Besuchszeit wird gekürzt. Frau Ludwig redet gegenüber der Presse von Streikbrechern und stellt die Schlägerei in diesen Zusammenhang. Gefangene schildern, dass bereits eine angespannte, zum Teil agressive Stimmung geherrscht hat, als ein älterer Pakistani zusammengebrochen sei. Ein Mitgefangener äusserte sich abschätzig über den Pakistani, worauf die Auseinandersetzung ausbrach.
 
5.11.
In den Mittagsnachrichten wird berichtet, dass ein «runder Tisch» stattgefunden habe, und dass nur noch 7 Leute im Hungerstreik wären. Am «runden Tisch» war niemand vom 3. Stock vertreten. Nacheinander waren je drei Leute aus Algerien und aus Kosova vorgeladen worden – alle aus dem 4. Stock.
Am frühen Nachmittag telefoniert E. und sagt, dass zu den bis heute streikenden 21 Albanern ab jetzt noch 14 dazukämen.
Auszug aus der Pressemitteilung der Frepo um 15.30 Uhr:
«Am 5.11. fand im Flughafengefängnis das Gespräch zwischen der Frepo und einer Delegation der hungerstreikenden Ausschaffungshäftlinge statt.
Ziel des Gesprächs war es, die Streikenden über die Rechtslage betreffend das Asylverfahren und die fremdenpolizeilichen Massnahmen zu informieren, sowie Unklarheiten und Missverständnisse zu beseitigen. Dabei wurden weder Entscheide getroffen noch irgendwelche Zusagen gemacht. Die Vertreter des BFF sicherten aber zu, konkreten Schwierigkeiten bei der Papierbeschaffung in Einzelfällen nachzugehen. Hinsichtlich des Wegweisungsvollzugs nach Algerien hielten die Vertreter des BFF fest, dass ein genereller Vollzugsstop derzeit nicht gerechtfertigt sei und dass Ausschaffungen grundsätzlich nach wie vor zulässig, zumutbar und möglich seien; von einer Ausschaffung werde aber dann abgesehen, wenn im Einzelfall eine konkrete Gefährdung vorliege. Bezüglich des Vollzugs nach der Bundesrepublik Jugoslawien stellten die Bundesvertreter klar, dass die Papierbeschaffung im Rahmen der seit 1.9.97 mit diesem Staat bestehenden Rückübernahmeabkommen erfolge; es bestehe kein Grund zur Annahme, dass das Abkommen nicht vereinbarungsgemäss umgesetzt werde. Im übrigen wurde daran festgehalten, dass die der Haft zugrundeliegenden Wegweisungen rechtskräftig sind, die Haft selber vom Richter geprüft und bestätigt ist, und der Vollzug der Wegweisung grundsätzlich nicht in Frage steht. Ob die Voraussetzungen für die Weiterführung der Haft gegeben sind, wird von Gesetzes wegen in jedem Einzelfall geprüft und die Entlassung dann angeordnet, wenn die Grundlagen für die Haft nicht mehr gegeben sind.»

Im "Regionaljournal" um 17.30 Uhr von Radio DRS kommt (zum ersten mal in der langen Geschichte des Widerstandes von Flüchtlingen) ein am Hungerstreik beteiligter Mann persönlich zu Wort. Das später folgende "Echo der Zeit" zitiert ihn wörtlich
 
6.11.
O. meldet telefonisch, dass der Hungerstreik beendet sei. 4 KantonsrätInnen besuchen die Hungerstreikenden.
Auszug aus der Medienmitteilung der Gefängnisdirektion:
«Nachdem am 5.11. im Flughafengefängnis eine Aussprache zwischen der Frepo, Vertretern des BFF und zwei Delegationen der hungerstreikenden Ausschaffungshäftlinge stattgefunden hat, haben die noch verbleibenden streikenden Insassen heute nach ausführlichen internen Diskussionen ein Dokument verfasst, in dem sie den Hungerstreik für beendet erklären. Sie bedanken sich gleichzeitig dafür, die Möglichkeit für das erwähnte Gespräch erhalten zu haben. Am Mittag des 6.11. haben wieder alle Insassen Nahrung zu sich genommen und sind wohlauf. Die betroffenen Insassen werden nun durch das Personal des Flughafengefängnisses verstärkt begleitet, damit sie nach den etwas angespannten Tagen wieder zur Ruhe kommen können.»
 
10.11.
K. schreibt und telefoniert. Er war beim Haftrichter in St. Gallen. Gleich nach der Verlängerung der Ausschaffungshaft ist er nach Flums in das dortige Bezirksgefängnis verlegt worden. Als möglicher Sprecher der albanischen Männer, der sehr gut Deutsch spricht, sollte er auf keinen Fall zurück nach Kloten gebracht werden.
 
Nachtrag
Später erfuhren wir von den Vorgängen im zweiten Stock. Ab dem 3.November sind 8 afrikanische, 3 palästinensische und einige albanische, irakische und libanesische Gefangene in den Hungerstreik getreten. Da sie aber über die konkreten Ziele und Forderungen des Hungerstreiks nur sehr schlecht informiert waren, brachen einige den Hungerstreik schon nach zwei Tagen wieder ab. Maximal wurde im zweiten Stock während sieben Tagen gehungert. Dazu ist zu bemerken, dass der zweite Stock die «Eintrittsabteilung» des Ausschaffungsgefängnisses ist und dort Bedingungen ähnlich der Untersuchungshaft herrschen.

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