Bulletin Nr. 18; August 1997

Kommentar

Safer politics

So einfach ist das: «In Algerien herrsche weder Krieg noch Bürgerkrieg, und das Leben der Einwohner sei nicht ernsthaft gefährdet», fand der Bundesrat in seiner Antwort auf eine Anfrage aus dem Nationalrat. Demzufolge seien auch Rückschaffungen nach Algerien weiterhin «zulässig, zumutbar und möglich».
Diese Antwort des Bundesrates erscheint im Lichte der jüngsten dramatischen Vorfälle im Zusammenhang mit algerischen Ausschaffungshäftlingen von einer zynischen Logik: Wenn das, was in Algerien heute vor sich geht, weder Krieg noch Bürgerkrieg sein soll, dann sind Selbstmordversuche, Selbstverstümmelungen und eine steigende Zahl von schwersten psychischen Erkrankungen von algerischen Ausschaffungsgefangenen hier in der Schweiz sowieso Peanuts.
Es vergeht praktisch kein Tag, ohne dass Meldungen über Massaker in Algerien in den hiesigen Medien auftauchen. Meist als Kurzmeldungen mit dem Inhalt: Es gab soundso viele Tote, und die Terroristen waren von der GIA («Groupes armées islamiques»). In fundierteren Berichten werden sowohl die Agenturmeldungen wie auch der Bundesrat Lügen gestraft. Selbstverständlich gibt es in Algerien einen Krieg respektive einen «Bürgerkrieg». Unter welchem Begriff sonst sind mindestens 100'000 Tote in fünf Jahren, systematische Folter, geheime Gefängnisse, 5000 «Verschwundene», mindestens 50’000 politische Gefangene und die zunehmende Militarisierung und Brutalisierung der ganzen algerischen Gesellschaft zusammenzufassen? Zumindest ein Teil des Terrors, der bewaffneten Islamisten zugeschrieben wird, geht offensichtlich auf das Konto des Regimes resp. der Armee und der Geheimdienste.
Hinter den lapidaren Erklärungen des Bundesrates, in Algerien gebe es weder Krieg noch Bürgerkrieg steckt weniger Ignoranz (denn auch Bundesräte können lesen) als das Zusammentreffen von zwei Strategien:
Einerseits gibt es da die «Festung Europa» und das «Drei-Kreise-Modell». Immigration aus nichtweissen Ländern nach Europa und der Schweiz soll um jeden Preis verhindert werden. Haben nun Abertausende von Menschen gute Gründe, aus Algerien zu fliehen, so müssen einfach diese Gründe «wegerklärt» werden. Kein Krieg, kein Bürgerkrieg.
Zum anderen ist Algerien nicht irgendein Land, sondern liegt im Brennpunkt grosser strategischer und wirtschaftlicher Interessen der EU, insbesondere der französischen Rohstoff- (Öl und Erdgas, andere Bodenschätze) und Industriekonzerne. Als Erbe der Kolonialisierung durch Frankreich ist Algerien heute noch wirtschaftlich und politisch stark von Frankreich dominiert. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Frankreich und mit ihm die EU, das Regime der Generäle in Algerien stützen, um Einfluss und Kontrolle über den wichtigen Rohstofflieferanten und Absatzmarkt nicht zu verlieren. Der schweizer Bundesrat zieht diese Politik mit und schlüpft unter das gemeinsame Deckmäntelchen, das die Komplizenschaft mit der korrupten und blutigen Herrscherclique in Algerien verdecken soll: kein Krieg, kein Bürgerkrieg.
Wütend stimmt uns dann aber doch, wie leicht dem Bundesrat das Lügen gemacht wird. Alle wissen, was gespielt wird, aber keineN interessiert’s. Und Frau Ludwig, Chefin des Ausschaffungsgefängnisses und die Ausschaffungspolizisten haben einfach ein paar «algerische Problemfälle» mehr. Konsequenterweise haben sie ja auch die vermehrte Unterstützung des Bundes für diese «Fälle» angefordert. (Sie dazu auch den Bericht auf der ersten Seite dieses Bulletins.)

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Zurück zum Archiv

URL dieser Seite