Bulletin Nr. 18; August 1997
Jude im Keller
Antisemitusmus oder Philosemitismus? Freund- oder Feindbild?
von Yael Grözinger, Frankfurt
Vorweihnachten in der Schlange an der Kasse im Toom-Markt. Vor mir ein
Einkaufswagen. Eine rosa Weihnachtsgans grinst heraus. Die dazugehörende
Kundin kennt mich noch aus dem Kindergarten. Sie rätselt. Was machen diese
armen Juden wohl zur Weihnachtszeit? Deshalb fragt sie: «Fahren Sie über
die Feiertage nach Hause nach Israel»?
Was erwarten eigentlich Nichtjuden von Juden? Jeder Jude könnte unzählige
Geschichten erzählen, die den Eindruck fördern, dass es noch keine
deutsch-jüdische Normalität gibt.
Ein Kommiltone an der Uni mag junge Jüdinnen. Eines morgens in der
Vorlesung hauchte es warm in mein Ohr: «Boker Toohf». das war
bayrisch-hebräisch «Guten Morgen». Er möchte wissen, wann «Schannuka» ist
und wann die nächste «Chuzpe» wieder erscheint.
Ein Nachbar fragt beiläufig: «Kennen Sie zufällig einen Samuel Perlmann?»
Ich: «Nein.» Eine Woche später derselbe Nachbar: «Diese Spekulanten in
Frankfurt mit ihren Wuchermieten – dieser Silberberg ist so einer!» Dann:
«Gell, Sie sind Jüdin!?» Er ist ganz stolz. Seither muss ich zu
Bibelzitaten und dem Friedensprozess im Nahen Osten Stellung nehmen.
Er fragte auch, wie ich «diesen Michel Friedman» fände und «welche Macht
hat eigentlich der Bubis?». «Kann er befehlen, dass jetzt alle Juden nach
Israel gehen sollen?»
Auch ist es von Nutzen zu wissen, wann Giora Feldmann wieder in der Stadt
ist und was an dem Film «Das Siebte Zeichen» alles kabbalistisch ist, sowie
die Öffnungszeiten des Jüdischen Museums zu kennen.
Wann sind Fragen gut und wann nervend? Man sieht mir nicht unbedingt an,
dass ich eine Jüdin bin. Gebe ich mich doch zu erkennen, sagen manche
Leute: «Oh, wie interessant.» Andere trösten mich mit den Worten: «Aber das
macht doch nichts.»
Beide Reaktionen zeigen mir auf ihre Art, dass man als Jude oft in eine
bestimmte Rolle gedrängt wird. Die eine Absicht ist gut, die andere böse.
Antisemitismus und Philosemitismus, Bruder und Schwester. Mit zwölf Jahren
umschwärmte mich eine Horde pubertierender Jungs: als nichts aus uns
geworden ist, schlug ihre Liebe in Hass um. Ein faules Ei zerbarst an
unserer Haustür, ein brennender Hundehaufen qualmte auf der Fussmatte, und
eines Tages schrien die Jungen vor dem Haus: «Juden raus!»
In der Schule verbarg sich der Antisemitismus häufig hinter Kritik an
Israel. «Ihr unterdrückt die Araber. Ihr seid ja selbst wie die Nazis!» Ich
soll mich verteidigen? Als – wie man so schön sagt – deutsche Jüdin,
jüdische Deutsche oder Jüdin in Deutschland kann ich nur versuchen zu
erklären. Verteidigen müssen sich höchstens die israelischen Politiker
selbst.
Ich heisse Yael; provozierend nannte mich aber mein Ethik-Lehrer in der
Schule «Israel». Als ich mal den Unterricht geschwänzt habe, meinte er:
«Geh zurück nach Israel, man will dich hier nicht!»
Aus Angst, antijüdisch zu wirken, geben sich viele Leute betont projüdisch.
Macht schlechtes Gewissen Philosemiten? Manche Leute beteuern gerne, dass
sie aus einer Familie des Widerstands im «Dritten Reich» stammen. Jeder hat
so seine Juden im Keller. Sie verteidigen sich, ohne beschuldigt worden zu
sein. Schlechtes Gewissen?
Als ich acht Jahre alt war, ging ich mit meinen Freundinnen zum
evangelischen Kindergottesdienst. Dort erzählte man uns: «Gott liebt alle
Christen!» Ich wollte aber, dass Gott auch mich liebt.
Die Leiterin tröstete mich, nahm mich auf den Schoss, streichelte meinen
Kopf und schenkte mir Bücher. Mit ihren christlichen Schäfchen tat sie das
nie. So früh kann man zum Berufsjuden werden.
Es gibt Antisemiten und Philosemiten; es gibt ein Feindbild «Jude» und ein
Freundbild »Jude». Solange man überhaupt ein Judenbild braucht, bleibt
ein Jude etwas Fremdes und Exotisches. Ich finde, die Juden könnten doch
eigentlich Eintritt nehmen.
Diesen Beitrag entnahmen wir der Zeitschrift für Antisemitismus-Forschung
»SACHOR» Nr. 3/94. Gleiche Erfahrungen machen JüdInnen in der Schweiz.
(Hervorhebungen durch die Red.)
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