Bulletin Nr. 15; September 1996

Dissozialität: die neue Zauberformel

Dissozialität heisst die neue Zauberformel, mit der sich die Justizbehörden in neuester Zeit hervortun, um unliebsame AusländerInnen in Ausschaffungshaft zu setzen. Anlehnung an völkische Begriffe wie ‘asozial’, ‘amoralisch’, ‘anpassungsunwillig’, ‘Gruppen mit erheblichen kriminellen Energien’ usw. kommen nicht von ungefähr. Sie sind Teil einer erweiterten Kampagne und Strategie gegen alles ‘fremdartige’ und ‘unschweizerische’. Die Ausgrenzungs- und Abschottungspolitik basiert auf gut vorbereitetem Schüren von Ängsten gegenüber ausländischen Menschen. Entsprechende Zuweisungen wie: ‘Asylbetrüger’, ‘Scheinasylanten’, ‘Sozialabzocker’, usw. haben längst gegriffen. Bis weit ins linke Lager hinein sind die Unkenrufe zu hören, die meinen, ‘man müsse jetzt endlich was tun, um die Ausländerfeindlichkeit der SchweizerInnen nicht noch mehr zu forcieren’. Mit dieser abstrusen Begründung wird eigenes rassistisches Gedankengut und Handeln zugeschüttet. Milde wird darüber hinweggesehen, wie der Polizei- und Justizapparat aufgerüstet wird, Grundrechte abgebaut und unterhöhlt werden. Rassistische und antisemitische Übergriffe werden kaum mehr wahrgenommen. Eher werden sie verschwiegen denn unterbunden und bekämpft. ‘Ohne Ausländer keine Fremdenfeindlichkeit! Ohne Juden kein Antisemitismus!’ Die verhängnisvolle Umkehrung mit der Opfer zu Tätern gemacht werden; ist u.a. auch Rechtfertigung zu weiteren Verschärfungen im Straf- und Asylrecht, zu weiterem Abbau von Menschenrechten. Rechtfertigung für weitere sog. ‘griffigeren’ Richtlinien zur effizienten Abschottung und Verfolgung von MigrantInnen und nicht zuletzt Rechtfertigung zum Bau und Betrieb weiterer Gefängnisse.
In der Hetzjagd gegen alles ‘nicht-schweizerische’ vor und nach der Lettenschliessung gehörte es zum alltäglichen Bild, dass AusländerInnen an allen Ecken der Stadt gefilzt wurden. Wer schlechte oder keine Papiere hatte, wurde auf den Posten mitgenommen. Viele kamen nach kurzer Zeit wieder frei, mussten aber die oftmals demütigende und rassistische Behandlung schlucken, wollten sie sich nicht noch mehr Probleme einhandeln. Regelmässig berichten uns AusländerInnen, dass ihnen bei Kontrollen gesagt wurde, sie hätten in Zürich nichts zu suchen. Beim nächsten Mal kämen sie ins Gefängnis. Diese oftmals leeren Drohungen schüchtern die meisten Leute ein oder verunsichern sie erheblich.
 
Das Drogenmilieu ist überall...
Hier seien zwei typische Beispiele genannt, die sich im Juni und Juli dieses Jahres ereigneten:
Moussa flüchtete als verfolgter Oppositioneller unter dramatischen Umständen aus seinem Land in Afrika. Seit seiner Flucht werden die Angehörigen von der Sicherheitspolizei verhört und eine Person festgehalten. Seit wenigen Monaten lebt er als Asylbewerber in einem Durchgangszentrum. Von der Schweiz, von Zürich und den Verhältnissen hier weiss er wenig, seine Deutschkenntnisse sind noch nicht sehr weit gediehen. Mit einem Kollegen hat er einen Landsmann getroffen, der schon länger hier ist und Arbeit hat. Als die zwei den Heimweg antreten, werden sie von einer Polizeistreife angehalten: Ausweiskontrolle, die Taschen geleert. Nichts. Trotzdem fährt ein Kastenwagen vor, bringt, ohne jede Erklärung die beiden auf den Hauptposten Urania. Sie werden – getrennt – drei Stunden festgehalten, noch einmal erkennungsdienstlich behandelt und dann freigelassen mit dem Satz: «Mit dem Ausweis N haben sie in Zürich nichts zu suchen». Moussa ist schockiert. Er weiss überhaupt nicht, was gelaufen ist, glaubte zuerst, ‘sein’ Regime habe ihn hier aufgespürt. Die traumatischen Ereignisse seiner Flucht holten ihn ein. Jetzt schläft er kaum, schwitzt nachts, ist deprimiert und zutiefst verunsichert. Das bisschen Hoffnung auf Schutz in einem demokratischen Land ist zerstört.
Vier Asylbewerber, drei schwarzhäutige und ein weisshäutiger, sitzen im Tram Nummer 13 Richtung Frankental. An der Haltestelle ‘Museum für Gestaltung’ steigen Billetkontrolleure und mit ihnen je zwei PolizistInnen (drei Männer, eine Frau) in die zwei Tramwagen ein. Alle Asylbewerber haben gültige Billette. Die Polizisten steuern zielsicher auf Phil, den Mann mit der dunkelsten Hautfarbe zu, und verlangen seinen Ausweis. Er gibt ihn, trotzdem wird er an der Quellenstrasse aufgefordert, mit den Polizisten auszusteigen. Joe steigt zusammen mit Phil aus, die anderen fahren weiter. Ein Polizist fragt Phil, was er hier mache. Joe will für ihn antworten, da Phil weder fliessend englisch noch deutsch spricht. Die Polizisten unterbrechen ihn, sie hätten Phil gefragt. Der antwortet, dass er seinem Freund, der von einem Asylzentrum ins andere verlegt worden ist, beim Zügeln helfen will. Als ob er nichts gesagt hätte, wird Phil nochmals von den Polizisten gefragt, was er denn hier mache, «du wohnst doch in Adliswil, was machst du also in Zürich». Joe fragt zurück, wieso Phil denn kein Recht habe, in Zürich zu sein. Die Polizisten heissen ihn, ruhig zu sein und zur Seite zu gehen. Zuvor muss aber auch Joe noch den Ausweis zeigen. Danach müssen beide ihre Sachen aus der Hosentasche nehmen und auf eine Sitzbank an der Haltestelle legen. Nun wird auch Joe gefragt, was er denn in Zürich mache. Da er in Adliswil wohne, müsse er doch dort bleiben. Man bezahle sie nicht, damit sie nach Zürich kämen. Darauf erwidert Joe, dass er am Zügeln nach Oberengstringen sei. Währendessen muss Phil seine Hose herunterziehen, viele Leute stehen herum. Die Polizisten untersuchen seine Unterhosen. Danach erhalten Joe und Phil ihre Ausweise zurück. Dabei drohen die Polizisten Phil, dass er kein Recht hat, in Zürich zu sein, und wenn sie ihn nochmals in Zürich antreffen, würde er ins Gefängnis kommen. Mit Gesten deuten die Polizisten dabei Handschellen an. Joe fragt, warum Phil kein Recht habe, in Zürich zu sein. «Und du auch», erhält er als Antwort, «auch dich werfen wir das nächste Mal ins Gefängnis» – wiederum begleitet mit der Handschellengeste.
In den letzten Monaten hat sich gezeigt, dass diese Kontrollen und Verhaftungen nicht ohne Folgen für die Betroffenen bleiben: AusländerInnen, die in Zürich kontrolliert, durchsucht und dann meistens auf den Posten mitgenommen werden, erhalten im Polizeirapport regelmässig den Vermerk «im Drogenmilieu kontrolliert». Da ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zum festen Satzbaustein der zürcher Fremdenpolizei, welche papierlose Algerier, die in Ausschaffungshaft sitzen, bei verschiedenen Interpolstellen folgendermassen denunziert:
«Ibrahim hat den Anschein gemacht, dass er seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Drogen finanziert hat».
Der von dieser Lüge Betroffene hat nie etwas mit Drogen zu tun gehabt, er ist wie so viele andere nur ohne Papiere in Zürich kontrolliert und verhaftet worden. Doch hängen bleibt immer etwas. Schliesslich nimmt die Polizei niemanden ohne Grund mit. Nun ist es so, dass für die zürcher Polizei fast die ganze Stadt Zürich als Drogenmilieu gilt, mit Ausnahme des Zürichbergs und Teilen von Wollishofen und Enge. Einmal zwischen den Dossierdeckeln abgelegt, entwickeln sich solche idiotischen Allgemeinplätze schnell einmal zu unumstösslichen Wahrheiten. Wer auch immer ein Personendossier einsieht und auf den Vermerk «im Drogenmilieu kontrolliert» stösst, glaubt der Akte, und erlässt entsprechende Sanktionen. Als Beispiel sei hier aus einem Brief der Fremdenpolizei des Kantons Zug vom 10. Juli dieses Jahres zitiert. Da heisst es unter anderem:
«Bereits während des hängigen Asylverfahrens stellt sich bei den dem Kanton Zug zugewiesenen Asylbewerbern das Problem, dass sich viele davon öfters in der Stadt Zürich – angeblich bei Freunden – aufhalten und während ihres Aufenthaltes vermehrt in der Drogenszene getroffen und kontrolliert werden. Oftmals delinquieren sie, was wiederum zu Strafuntersuchungen und entsprechenden Urteilen führt. Zwar liegt gegen Herrn Ali kein solches Urteil vor, jedoch wurde auch er bereits im Drogenmilieu kontrolliert und anschliessend der Frepo Zug zugeführt. Es ist ein Anliegen der zürcher Polizeibehörden, dass sich die den angrenzenden Kantonen zugeteilten Asylbewerber auch mehrheitlich dort aufhalten. Bei wiederholter Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung steht zudem die durch die ‘Zwangsmassnahmen’ statuierte Möglichkeit der Ausgrenzung offen. Herr Ali kann sich tagsüber frei bewegen, abends sollte er sich jedoch in die ihm zugewiesene Unterkunft zurückbegeben.»
Der erste Schritt, eine Person als dissozial abzustempeln, ist hiermit gemacht. Wer in Zürich kontrolliert wird, begeht bereits eine «Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.» Der zweite Streich folgt sogleich: In verschiedenen Presseartikeln während den Sommerferien wurde darüber berichtet, dass das Bundesgericht die Haftbedingungen in den zürcher Ausschaffungsgefängnissen massiv gerügt hat. Allen JournalistInnen ist leider entgangen, dass obwohl verschiedene Verfahrensmängel massiv gerügt worden sind, die Gefangenen nicht freigelassen wurden. Begründet wurde die weitere Inhaftierung v.a. damit, dass sie «eine massive Gefährdung der öffentlichen Sicherheit darstellen». Um Massenfreilassungen auszuweichen, bringen die Bundesrichter ein neues Zauberwort ins Spiel: Dissozialität, die kleine Schwester der Asozialität.
 
Dissozial ist, wer:
- Hausfriedensbruch begeht (auf diesen Begriff kommen wir weiter unten nochmals zu sprechen)
- einen Ladendiebstahl begeht oder in Verdacht gerät, er oder sie könnten es tun oder getan haben
- Streit mit SchweizerInnen hat
- Auto in angetrunkenem Zustand fährt
- eine Busse für Schwarzfahren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln oder wegen Nachtruhestörung erhalten hat.
- an Demonstrationen teilnimmt
In einem Bundesgerichtsurteil vom 24.6.96, das sich mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde eines arabischen Mannes in Ausschaffungshaft befassen musste, heisst es:
«Zu berücksichtigen ist weiter, dass der Beschwerdeführer, solange er sich in Freiheit befand, unbeeindruckt von polizeilichen Interventionen wiederholt in Ladendiebstähle verwickelt war und insofern eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt.»
Die Bundesrichter zeichnen sich durch eine exakte Wortwahl aus. Sie reden nicht davon, dass der Beschwerdeführer Ladendiebstähle begangen hat. Einmal ist er aktenkundig wegen Diebstahl von Lebensmitteln verurteilt worden. Ansonsten ist nur die Rede davon, dass er Ladendiebstähle begangen haben könnte. Welche Gefahr für die öffentliche Sicherheit!
Im selben Urteil ist weiter oben die Rede von Untertauchensgefahr. ‘Untertauchen’ tönt schwer kriminell und weckt die wildesten Phantasien. Tatsächlich bedeutet es, dass eine Person an keiner Adresse gemeldet ist. AsylbewerberInnen, deren Gesuch abgelehnt worden ist, werden über kurz oder lang im Durchgangszentrum abgemeldet und gelten von diesem Da tum an als untergetaucht, und werden polizeilich ausgeschrieben. Haben sie dennoch die Frechheit, weiterhin im Durchgangszentrum zu schlafen, so erhalten sie Hausverbot, nützt dies nichts, werden sie wegen Hausfriedensbruch verurteilt.
Ein weiteres Bundesgerichtsurteil zu der Verwaltungsgerichtsbeschwerde eines anderen arabischen Mannes vom 10.7.96 hält fest:
«Wurden wesentliche Verfahrensgarantien verletzt, muss der Ausländer freigelassen werden, es sei denn, es liegen genügend Anhaltspunkte vor, dass er die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden könnte.»
Könnte!! So lasst uns denn zusammentragen, was gegen den ‘Ausländer’ sprechen könnte:
« ..der einfachen Körperverletzung sowie des Hausfriedensbruchs schuldig erklärt und mit drei Monaten Gefängnis bedingt bestraft worden. Die Körperverletzung beging der damals unter Alkoholeinfluss stehende, als er von Türstehern am Betreten eines Lokals gehindert wurde.»
«... im Durchgangsheim mit der Begründung gekündigt worden ist, dass er einem anderen Mitbewohner gegenüber mehrmals gewalttätig geworden ist. In Missachtung des gleichzeitig gegen ihn verhängten Hausverbots übernachtete er am ... in diesem Heim und beging dadurch Hausfriedensbruch.»
Offensichtlich hat es sich um gewalttätige Diskussionen zwischen zwei Personen, also heftige Streitereien mit Worten gehandelt, denn jede Schramme wäre in den Akten aufgeführt. Später besucht er in einem anderen Heim Freunde, und wird von der Heimleiterin fortgeschickt, welche keine Besuche von arabischen Leuten mehr dulden will:
«Am ... hielt er sich unberechtigterweise in der Asylantenunterkunft in .. auf und belästigte dort die Asylantenbetreuerin, welche die Polizei herbeirufen musste, worauf er wiederum verhaftet wurde.»
Er belästigte die Asylantenbetreuerin, indem er nicht schweigend kuschte und das Weite suchte, sondern zu widersprechen wagte. Dass gleichzeitig vom Asylzentrum, wo er monatelang gelebt hat, keine Klagen vorliegen, interessiert nicht mehr. Es würde auch nicht ins Bild passen. Logischerweise heisst es dann:
«Es ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer durch seine Gewalttätigkeit in nicht zu bagatellisierender Weise auch die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet hat und weiterhin gefährden könnte.»
 
Urteil dissozial und die Folgen
So wird ein weites Tor geöffnet für nachbarschaftliche Denunziationen. Missliebige AusländerInnen können bei den Behörden beliebig angeschwärzt werden. Geglaubt wird ja eh den sauberen SchweizerInnen. Dissozialität reicht nun also aus, um eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darzustellen. Erst 1½ Jahre sind vergangen, seitdem die Zwangsmassnahmen in Kraft sind, und schon ist die letzte Maske gefallen. Dissozial kann alles und jedeR sein. Was wir vom Begriff ‘dissoziale Elemente’ zu erwarten haben, ist einem Rundschreiben des BFF von Anfang Mai dieses Jahres zu entnehmen, welches den «Vollzug rechtskräftiger Entscheide für Personen aus Sri Lanka» behandelt:
«Gesuche von Asylsuchenden, die sich deliktisch, rechtsmissbräuchlich oder dissozial verhalten, werden unabhängig des Datums der Gesuchseinreichung behandelt. Nach negativem Ausgang des Asylverfahrens haben diese Personen die Schweiz zu verlassen.»
«Der Wegweisungsvollzug von Personen, die sich deliktisch, rechtsmissbräuchlich oder dissozial verhalten haben – wird unabhängig vom Datum der gesuchseinreichung – prioritär durchgeführt. Dasselbe gilt für Personen, die nach der vorübergehenden Sistierung des Wegweisungsvollzugs am 3.11.95 wieder aufgetaucht sind.»

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