Bulletin Nr. 8; Mai 1995

Hinsehen statt wegsehen...

war unsere Aufforderung im Vorfeld der Lettenräumung, zur Zeit der gehäuften, sichtbaren Polizeiübergriffe. Zahlreiche Vorfälle wurden dokumentiert und in regelmäßigen Pressebulletins veröffentlicht. Die Reaktion der Behörden war heftig und gehässig. Wie weit unsere Präsenz Übergriffe verhindern konnte, ist schwer abzuschätzen, die Zahl hat jedenfalls stark abgenommen. Wie weit es uns gelungen ist, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren, ist noch offen. Die Polit- und Pressekampagnen im Jahr der inneren Sicherheit '94 haben in weiten Kreisen ein Klima geschaffen, in dem rechtsstaatliche Überzeugungen kippen, Menschenrechtsverletzungen hingenommen werden, soweit sie jene treffen, die zum Feindbild erklärt worden sind.
Der Letten ist geräumt, es wird angesät, einmal mehr soll Gras über die Geschichten wachsen.
 
augenauf - Wie weiter?
Aus den Augen, aus dem Sinn. Wo sind die Drogenabhängigen geblieben? Verdeckte Szene hiess doch das Zauberwort. Versteckt, eingeigelt in Wohnungen, faktisch unter Hausarrest, selten im Laufschritt einzeln unterwegs und immer wieder kontrolliert, schikaniert - ist das ein menschenwürdiges Leben in einer Gesellschaft?
Die Angst der Mächtigen vor sommerlichen Tagen muss gross sein. Die Polizei durchstreift Parks und Plätze, kontrolliert und schikaniert Jugendliche ‚präventiv'. Es gelte, Hängerszenen schon im Ansatz zu verhindern!
Wenn 20 Skins am Hirschenplatz rassistische Parolen brüllen und ausländische Personen angreifen, findet die gleiche Polizei es "unverhältnismässig", einzuschreiten.
Gleichzeitig zur Jagd auf die Drogenabhängigen wurde zum Kesseltreiben gegen ausländisch aussehende Menschen angesetzt. Solange noch ein freier Platz in einem Gefängnis vorhanden ist, wird eifrig für Nachschub gesorgt, um den Abschub voranzutreiben.
Noch eine verdeckte Szene ist entstanden: Im Vollzug der Zwangsmassnahmen geschehen Dinge, die nicht einsehbar sind. Der Regierungsrat weigert sich, ein kantonales Gesetz zu erlassen, die geltende Verordnung regelt gerade das absolute juristische Minimum. Was verdeckt in den Ausschaffungsgefängnissen abläuft, entzieht sich jeglicher Kontrolle, der Verdacht auf Willkür entsteht so unwillkürlich.
Hinsehen statt wegsehen ist weiterhin unerlässlich: Wir stellen Fragen, stellen in Frage. Es soll sich nicht wiederholen, was Jahrzehnte später zum Skandal wird (oder ans Licht kommt), und zum Vorwurf einer jungen Generation an die Alten, die halt von nichts gewusst hätten - damals.

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