Bulletin Nr.56; März 2008

In Lyss/Kappelen BE dürfen zwei Kinder die Schule nicht besuchen

Schulpflicht für alle? - Nicht bei uns!

In der Schweiz besteht Schulpflicht für alle Kinder. So sieht es zumindest die Bundesverfassung vor. Die Kinder der Familie S. haben das Schulhaus bis anhin aber nur von aussen gesehen.

Seit etwa zwei Jahren wohnt Familie S. mit ihren drei Kindern (4, 7 und 8 Jahre alt) im Durchgangszentrum (DZ) Lyss. Die beiden älteren Kinder sind schulpflichtig. Aber nicht in Lyss/Kappelen: Da das Zentrum auf Boden der Gemeinde Kappelen steht, wäre diese verpflichtet, die Kinder einzuschulen. Dank eines Infrastrukturvertrags mit dem Kanton Bern jedoch ist die Gemeinde von allen Verpflichtungen entbunden und muss auch ihre Schule nicht zur Verfügung stellen. Auch im nahe gelegenen Lyss konnten Herr und Frau S. ihre Kinder bis dato nicht einschulen. Denn: Die Familie ist ausreisepflichtig. Deshalb besteht für den kantonalen Migrationsdienst kein Interesse, die Kinder in einer öffentlichen Schule einzugliedern – eine Integration schade nur dem Kindswohl, da die Familie in absehbarer Zeit ja sowieso ausreisen müsse. Ausreisepflichtige Familien leben aber oft noch Jahre in der Schweiz, bevor sie ausgeschafft werden. So haben die beiden Kinder unbegrenzt «Ferien» und ihre Chance, eine normale Schule zu besuchen, sinkt ständig. augenauf Bern ist durch diesen Fall auf die allgemeine Einschulungssituation von Kindern asylsuchender Eltern im Kanton Bern aufmerksam geworden. Wir haben bei verschiedenen Durchgangszentren nachgefragt, um uns ein Bild der Lage zu machen. Unsere Vermutungen wurden bestätigt: Die lokale Einschulung von «Zentrenkindern» hängt stark vom Wohlwollen der Gemeinde, der Schulkommission oder gar einzelner Lehrpersonen ab und ist damit grosser Willkür ausgesetzt. In vielen Gemeinden verläuft die Einschulung relativ problemlos, einzelne Gemeinden verschliessen sich den Kindern aus «ihren» Durchgangszentren jedoch gänzlich. Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis Auf rechtlicher Ebene ist der Fall eigentlich klar: Das Recht auf Bildung bzw. die Schulpflicht sind in der Bundesverfassung und in diversen völkerrechtlichen Abkommen 1 verankert. Die Umsetzung ist Sache der Kantone, die verpflichtet sind, alle schulpflichtigen Kinder einzuschulen – unabhängig von Nationalität oder Aufenthaltsstatus. Auch Kinder von Eltern mit einem Nichteintretensentscheid (NEE) oder mit einem negativen Asylentscheid haben somit das Recht, zur Schule zu gehen. Der Kanton Bern jedoch nimmt hier seine Verantwortung nicht oder nur teilweise wahr. Eine rechtlich verbindliche, kantonale Regelung, welche die Willkür der einzelnen Gemeinden unterbinden würde, fehlt. Dazu kommt, dass aus Sicht des Kantons Kinder, die im DZ über ein «angepasstes, eigenes Bildungs- und Kontaktangebot» verfügen, bereits als eingeschult gelten, wie der Regierungsrat auf eine im Jahr 2002 eingereichte Interpellation 2 antwortete. Dieses «Bildungs- und Kontaktangebot» besteht in der Praxis aus sporadischem, von PraktikantInnen oder Zivildienstleistenden geführtem Unterricht, der keiner Kontrolle unterliegt – auch hier fehlen also verbindliche Kriterien. Es ist fraglich, wie der Kanton Kinder, die ein solches «Programm» besuchen, als eingeschult betrachten kann. Kindern, die nicht zur Schule gehen, bleibt so ein wichtiger Aspekt ihrer Sozialisation verwehrt und wenn dieser Zustand länger andauert, werden sie später an ihrem Wohnsitz (sei dies in der Schweiz oder anderswo) Probleme haben. Politisch Druck aufbauen gegen die Willkür Der oben angesprochene Fall der Familie in Lyss ist ein gutes Beispiel für die willkürliche Umsetzung rechtlicher Vorgaben. Auf Druck von verschiedener Seite hat der Berner Migrationsdienst unlängst dem Sachabgabezentrum Lyss die Bewilligung erteilt, eine Lehrperson für sechs Lektionen pro Woche einzustellen. Positiv daran ist, dass eine pädagogisch ausgebildete Person angestellt wird. Allerdings sinkt damit die Chance, dass die Kinder jemals die öffentliche Schule in Lyss besuchen können. Die Anzahl der gesprochenen Lektionen ist geradezu lächerlich und kann nicht mit dem Unterrichtspensum an öffentlichen Schulen verglichen werden. augenauf Bern hat sich im Januar 2008 mit vier Grossrätinnen getroffen. Gemeinsam versuchen wir, auf politischer Ebene die Schulpflicht für alle Kinder, unabhängig von Herkunft und Aufenthaltsstatus durchzusetzen. 1 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte; Übereinkommen über die Rechte des Kindes; Internationale Flüchtlingskonvention. 2 Interpellation 108/02 (Pulver), Einschulung von Kindern von Asylsuchenden.

augenauf Bern



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