Bulletin Nr.56; März 2008

Angespanntes Warten im Auslieferungsverfahren von Mehmet Esiyok

Gutachten bestätigt Foltervorwurf

Ein Gutachten, ein weiteres Revisionsgesuch und die Erwartung des neuen Asylentscheides: Das Seilziehen um das Schicksal von Mehmet Esiyok geht weiter.

Die einzigen belastenden Aussagen gegen das PKK-Kader Mehmet Esiyok wurden unter Folter gemacht. Dies bestätigt ein Gutachten, das Helmut Oberdiek im Auftrag von Esiyoks Anwälten erstellt hat. Der anerkannte Übersetzer ist in Deutschland als Spezialist in türkischen Rechtsfragen bekannt und konnte die türkischen Originaldokumente sachkundig interpretieren.
Seit Sommer 2007 haben wir einen grossen Teil der Originalakten des Strafverfahrens beschaffen können, in dem Esiyok des Auftrages zu einem Mord beschuldigt wird. Es handelt sich dabei um jene Akten, welche alle Anwälte seit Beginn der Auslieferungshaft einsehen wollten, was die türkischen Behörden und Gerichte jedoch ohne Begründung immer verweigerten. So konnte dann auch das Bundesgericht die Echtheit der Dokumente in Zweifel ziehen, als sie als Grundlage des ersten Revisionsgesuches dienten.

Die ersten Wochen Haft dienten der Folter
Das Gutachten ist in dieser Frage eindeutig: Es besteht kein Zweifel, dass es sich um die entsprechenden Akten handelt. Was für den Spezialisten allerdings sehr fraglich ist, ist der daraus konstruierte Vorwurf gegen Esiyok. Denn über die angebliche Tötung des Dorfschützers gibt es keine unabhängigen Berichte, weder in den Medien noch in Archiven von Menschenrechtsorganisationen in der Türkei. Und: Beim Belastungszeugen handelt es sich um einen syrischen Kurden, der die türkische Sprache nicht beherrscht. Dieser Mann ist nach mehreren Wochen Gefängnis in einer Polizeistation bereit, unzählige Aktionen, welche die PKK während des Bürgerkriegs begangen haben soll, mit den jeweiligen Tätern aufzulisten. Insgesamt kommen Aussagen gegen etwa 100 Mitglieder der kurdischen Separatistenorganisation zusammen.
Dass dabei Zweifel aufkommen, ist klar: Erstens ist eine Guerilla nicht so organisiert, dass jeder beim Feierabendbier erzählt, was er grad Tolles geleistet hat. Ganz im Gegenteil. Es besteht ein erhebliches Interesse, diese Informationen im kleinen Kreis der militärischen Einheit zu behalten, um zu verhindern, dass ein Gefangener alles erzählen kann. Weiter ist überhaupt bemerkenswert, über welch gutes Gedächtnis dieser Kurde in seiner Angst in der türkischen Gefängniszelle verfügt. Unzählige Aktionen mit Angabe von Ort, Datum und den Namen der Beteiligten, alles chronologisch minutiös aufgelistet. Es spricht tatsächlich alles dafür, dass die ersten Wochen Haft vor allem dafür gebraucht wurden, den Mann mit Folter und Mordandrohung so weit zu bringen, dass er alles unterschrieb, was man ihm vorlegte.
Dass in den Neunzigerjahren im Bürgerkrieg die Türkei nach diesem Muster vorging, belegen Berichte von Menschenrechtsorganisationen. Dass die Türkei auch heute noch, trotz Unterzeichnung der Antifolter-Konvention, solche Aussagen in Strafverfahren verwendet, wird von vielen Seiten kritisiert. Was im konkreten Fall noch hinzukommt: Beim Studieren der türkischen Auslieferungsakten erkannte man, dass erstens die deutsche Übersetzung nicht vollständig ist, und zweitens verschiedene Widersprüche im Original kaschiert wurden. Sowohl für den Tatzeitpunkt sind im türkischen Original verschiedene Daten angegeben, die drei Monate (!) auseinanderliegen, wie auch für die Strafverfahren selbst. Es wird nicht einmal konstant dieselbe Nummerierung verwendet.

Zweites Revisionsgesuch an das Bundesgericht
Genau die Tatsache, dass in den türkischen Auslieferungsakten Ungenauigkeiten und Widersprüche bestehen, hatte das Bundesgericht in anderen Auslieferungsverfahren bewogen, die Beschwerden gutzuheissen. Da nun dank dieses Gutachtens bekannt wurde, dass dieselben Zweifel im Verfahren gegen Esiyok auch bestehen, versucht der Anwalt erneut eine Revision des Bundesgerichtsurteils zu erwirken. Ein letztes Mal wird somit an das höchste Gericht der Schweiz die Frage gestellt, ob sich der türkische Rechtsstaat schon vollständig von der Bürgerkriegsvergangenheit gelöst hat. Vor allem auch vor dem Hintergrund der permanenten Verschärfung des Konfliktes mit den kurdischen Organisationen kann man auf diesen Entscheid gespannt sein. 
Nach diesem letzten Versuch, die Schweiz zu einem Sinneswandel zu bewegen, ist der Weg frei für die Anrufung internationaler Instanzen. Mit einer Beschwerde an das Komitee gegen Folter der UNO wird demnächst ein weiteres Rechtsmittel ergriffen. Das Komitee wird zu prüfen haben, ob die Schweiz die Konvention gegen Folter einhält. Darin ist festgelegt, dass keine Aussagen, die unter Zwang oder Folter entstanden sind, in einem Gerichtsverfahren verwendet werden dürfen. Bei einer Auslieferung ist der ausliefernde Staat verpflichtet, sicherzustellen, dass dies nicht der Fall ist. Und genau in diesem Punkt kneifen die Schweizer Behörden seit Jahren. Immer wieder kommt der Grundsatz zum Zug, dass die Schweiz ihrem guten Partner Türkei voll vertraut, ganz speziell in dieser Frage.

Asylentscheid wird demnächst erwartet
Auch in Mehmet Esiyoks Asylverfahren ist es wieder einen Schritt vorangegangen: Nachdem das Bundesverwaltungsgericht im letzten Sommer den ersten Entscheid des Bundesamtes für Migration (BfM) für ungültig erklärt hatte, musste es sich nochmals mit Mehmet Esiyok beschäftigen. Die Abklärungen scheinen inzwischen abgeschlossen zu sein und auch der Anwalt hat seine Stellungnahme eingereicht. Der Entscheid sollte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Da eine Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft in der Schweiz (im Gegensatz zum Beispiel zu Deutschland) auch Schutz vor einer Auslieferung gewährt, ist ein negativer Asylentscheid die Voraussetzung für eine Auslieferung. Sollte das BfM daran festhalten, Esiyok keine ausreichenden Fluchtgründe zuzugestehen, wird das Verfahren erneut ans Bundesverwaltungsgericht weitergezogen werden. Andernfalls laden wir zu einer Party ein...

Weitere Informationen zu Mehmet Esiyok:      
www.augenauf.ch/esiyok

augenauf Zürich



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