Bulletin Nr.56; März 2008

Polizeistaat versus Meinungsfreiheit

«Das Volk will das so…»

Präventive Massenverhaftungen scheinen zum Alltag zu werden. Die Polizeien von Bern, Basel, Luzern und Zürich haben zwischen dem 10. November 2007 und dem 26. Januar 2008 gleich fünfmal zu diesem Mittel gegriffen.

Taten
Am 10. November 2007 hat die Stadtpolizei Zürich im Bahnhof Stadelhofen einen S-Bahnzug gestoppt und 150 Personen im direkt beim Perron stehenden Bahnhofsgebäude einer Personenkontrolle unterzogen. Aus dem Umfeld des Revolutionären Aufbaus ist an diesem Abend zu einem nicht angemeldeten antifaschistischen Abendspaziergang aufgerufen worden. Weil die Polizei den Besammlungsort in der Altstadt besetzt hatte, ist eine Gruppe von Demowilligen mit der S-Bahn vom Hauptbahnhof an den Stadelhoferplatz gefahren. Da auch dort ein grösseres Polizeiaufgebot bereitstand, wollte man mit dem nächsten S-Bahn zurück an den Hauptbahnhof fahren. Der Zug wurde von der Polizei angehalten, der Widerstand einzelner zugfahrender Antifas mit Tränengas gebrochen. Für die Deanonymisierung der 150 Personen habe man bis Mitternacht gebraucht, sagte die Polizei später.
Am 1. Dezember sind in Luzern 245 von insgesamt rund 800 TeilnehmerInnen eines nicht angemeldeten Strassenfestes für Freiräume im Vögelisgärtli in Präventivhaft genommen worden. Der grösste Teil der Verhafteten ist in einen bereits im Jahr 2005 zum Notgefängnis umgerüsteten Trakt der Mammut-Zivilschutzanlage Sonnenberg transportiert und erst im Verlauf der Nacht oder am frühen Morgen an abgelegenen Orten der Stadt Luzern wieder freigelassen worden. Die Sicherheitsdirektorin der Stadt Luzern begründete das «harte Durchgreifen» mit der am Folgetag in Luzern durchgeführten Auslosung der Gruppenzusammensetzung für die Euro 08.
Am 19. Januar 2008 sind in Bern nach dem kurzfristigen Verbot einer zuvor von den Behörden bewilligten Demonstration gegen das WEF vom frühen Nachmittag 242 Personen in Präventivhaft genommen und erst im Verlauf der Nacht wieder freigelassen worden (siehe auch Artikel auf Seite 1). Von der Polizei als Schüsselfiguren ausgeschiedene Personen – unter ihnen der WoZ-Journalist Dinu Gautier – wurden von verdeckten Ermittlern bereits im Vorfeld überwacht und frühzeitig abgeführt. Ein Teil der Verhafteten ist in einem Zivilschutzbunker an der Laubeggstrasse 6 festgehalten worden.
Am späteren Abend des 25. Januar hat die Stadtpolizei Zürich eine nicht angemeldete Anti-WEF-Demonstration in Zürich Aussersihl auseinandergetrieben und 48 zumeist sehr junge TeilnehmerInnen verhaftet. Die Polizei sagt, dass um Mitternacht alle Verhafteten wieder freigelassen worden seien.
Am 26. Januar hat die Kantonspolizei in Basel im Umfeld einer nicht angemeldeten Anti-WEF-Demonstration 66 Personen während Stunden festgehalten (siehe Artikel auf Seite3).

Rechtfertigung
Wenn es denn nötig geworden ist, haben Polizei und Behörden diese Massenverhaftungen mit allgemeinen Bestimmungen begründet, die der Polizei das Recht geben, «eine Person festzuhalten, wenn dies zur Verhinderung der unmittelbar bevorstehenden Begehung einer erheblichen Straftat erforderlich ist» (Berner Polizeigesetz). Die in der Vergangenheit noch sehr umstrittene Anwendung dieses Prinzips auf potenzielle TeilnehmerInnen einer nicht angemeldeten Demonstration ist in den letzten Monaten auf breite Zustimmung gestossen. So hat der aus Funk und Fernsehen bekannte Daniel Jositsch (SP) im «Tages-Anzeiger» (22.1.2008) Folgendes zu Protokoll gegeben: «Bei unbewilligten Demonstrationen muss die Polizei verdächtige Personen von Beginn präventiv festnehmen können. (…) Auch die Bevölkerung will das so.»

Verbesserungsvorschläge
Auf Kritik stossen aus dieser Perspektive Planung und Durchführung der Polizeiaktionen und «unschöne» Einzelfälle: überfüllte Sondergefängnisse ohne sanitäre Einrichtungen, der Einsatz des Zivilschutzes bei der erkennungsdienstlichen Behandlung, die Verhaftung von «Unbeteiligten», zu eng angezogene Kabelbinder, die Nacktkontrollen bei Leibesvisitationen. Das Beispiel des Altstetter Kessels – in dem am 5. Dezember 2004 427 FC-Basel-Fans festgesetzt worden sind – zeigt, dass sich die Polizei diesen Argumenten nicht von Vornherein verschliesst. Weil es nach der Verhaftung in Altstetten ein Chaos in der restlos überforderten «Haftstrasse» in der Zürcher Kaserne gegeben hat, arbeitete man danach an deren Optimierung. Man hat dabei unter anderem an Heizstrahler und Trocken-WCs für die wartenden Gefangenen gedacht.

Auch an den Sondergefängnissen, die zwingend notwendig sind, wenn die Polizei auf einen «Chlapf» Hunderte von Personen in Haft nehmen will, wird man noch arbeiten. Solchen Sondergefängnissen haben sich nach Altstetten offenbar alle grösseren Städte gedanklich angenähert. Recherchen des «Blick» zufolge hat man im Hinblick auf die Euro in Bern das Von-Roll-Areal an der Länggasse, in Genf das Palexpo-Gelände und in Basel das stillgelegte Schällemätteli (Gefängnis) als temporäre Haftzentren bestimmt. Es würde nicht erstaunen, wenn für diese ein paar mobile Toi-Toi-Toiletten bestellt worden sind.

augenauf Zürich



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