Bulletin Nr.53; Juni 2007

«Humanitäre Handlung» oder «Behinderung einer Amtshandlung»?

Polen retour – Protokoll einer Ausschaffung

Ein Bericht, wie sich die Schweiz einer im Kanton Aargau wohnhaften tschetschenischen Mutter und ihrer beiden Töchter «entledigte».

Das erste Verhängnis ist ihre Herkunft: Die Familie I. stammt aus Tschetschenien. Die Mutter flüchtete mit ihren beiden Töchtern, fünfzehn und acht Jahre alt, nach Übergriffen durch die Russen in den Westen. Der Vater fehlte. Er wurde bei einem Überfall verschleppt und gilt seither als vermisst. Die Mutter erlitt schwere Rückenverletzungen, die Kinder wurden traumatisiert.
Das zweite Verhängnis der Familie ist ihre erste Zwischenstation Polen, wo sie Asyl beantragte und schlecht betreut in einem Flüchtlingslager lebte, in permanenter Angst vor polnischen Skinheads.
Darum floh die Familie in die Schweiz weiter. Da Polen aber als sicheres Drittland gilt und mit der Schweiz ein Rückschaffungsabkommen hat, wurden die Mutter und die beiden Kinder, die Schweizer Schulen besuchten und sich bestens integrierten, im vergangenen Februar verhaftet und ausgeschafft.

Er hörte nur die Kinder schreien
Ein Schweizer Unternehmer ist der rechtliche Vertreter der Flüchtlingsfamilie. Er versuchte vergeblich, der Familie zu helfen: Nachdem er morgens um sechs telefonisch informiert wurde, dass die Polizei im Asylheim sei, machte er sich sofort auf den Weg. Im Asylheim sperrten Polizisten den Korridor ab und drängten ihn laut nach draussen. So war es dem rechtlichen Vertreter nicht möglich, mit der Familie Kontakt aufzunehmen und ihr noch etwas Geld mitzugeben, das sie in Polen bitter nötig gehabt hätte. Vielmehr wurde er aufgefordert, sein Auto, das er vor dem Asylheim geparkt hatte, wegzustellen, weil es sonst abgeschleppt würde und es «dann halt dabei kaputt gehen» würde.
Auf sein erneutes Begehren, mit der Familie reden zu können, packten ihn zwei Polizisten und führten ihn unter Androhung einer Anzeige wegen «Behinderung einer Amtshandlung» vom Geschehen weg. Bewacht von einem Polizisten konnte er nicht sehen, wie die Familie aus dem Heim herausgeführt wurde. Er hörte nur die Kinder schreien.

Mit Handschellen und Gürtel gegen Mutter und Tochter
Als der Polizeitransporter mit den Gefangenen das Aargauer Dorf verliess, verfolgte der Bekannte ihn mit seinem Auto, verlor ihn auf der Autobahn aber aus den Augen.
Erst am Abend erfuhr er in einem Telefonat aus Polen ein paar zusätzliche Einzelheiten der Ausschaffung: Die Mutter und die ältere Tochter waren mit Handschellen und zusätzlich mit einem Gürtel festgebunden worden. Die Mutter – immer noch in ärztlicher Behandlung wegen ihrer Rückenverletzung – erbrach sich und wurde im Transporter bewusstlos.

Der Unternehmer hält fest, dass er «an der Durchführung einer humanitären Handlung behindert» wurde und resümiert in einem Brief an einen Aargauer Nationalrat: «Ich [...] muss das Verhalten gewisser Beamter [...] als gezielte und vorsätzliche Einschüchterung bezeichnen. Wenn man versucht, selbst uns Schweizer einzuschüchtern, die sich notfalls – wie in meinem Falle – noch zur Wehr setzen können, wie erniedrigend muss dies erst ein schutzsuchender Ausländer erleben, der auf Gedeih und Verderb auf diese Beamten angewiesen ist und nicht von einem lebenden Schutzschild begleitet wird. Dies ist das bleibende Bild unserer Schweiz im Ausland.»

augenauf Basel



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