Bulletin Nr. 51; Dezember 2006

Leben mit NEE: Menschen am Rande eines totalen Zusammenbruchs

Hungern und frieren im Heidiland

Der Kanton Zürich zeigt, wie man Menschen erniedrigt und jegliche Solidarität unter ihnen verhindert: Er «dynamisiert» das Leben von Flüchtlingen.


Flüchtlinge mit einem Nichteintretens-Entscheid (NEE) trifft es im Kanton Zürich besonders hart: Sie sind nicht nur auf Nothilfe gesetzt, sondern werden zusätzlich jede Woche von einer Unterkunft zur nächsten geschickt. Was im Sommer letzten Jahres unter dem Namen «Dynamisierung» eingeführt wurde, entspricht einer eigentlichen Vertreibungspraxis: Die Betroffenen sollen spüren, wie unerwünscht sie hier sind, und sie sollen nirgends Fuss fassen können.
Konkret sieht das so aus: Jeden Mittwoch müssen sich alle Menschen mit NEE aus fünf verschiedenen Unterkünften*, die über den ganzen Kanton verteilt sind, auf den Weg zum Migrationsamt machen. Das Billett für die Anreise müssen sie selbst auftreiben – was keine einfache Sache ist, wenn man von 60-Franken Migros-Gutscheinen in der Woche lebt.
Herr Burkhalter von der privaten «Asylverwaltungsfirma» ORS will dazu augenauf gegenüber keine Auskunft geben. Weder äussert er sich zur Bezahlung dieser Anreisen, noch über Kleider- und Hygienegeld. augenauf könne ja beim Kanton nachfragen – ein typisches Verhalten der Privaten, die zwar die Hoheit über die von ihnen verwalteten Unterkünfte beanspruchen, bei kritischen Fragen aber die ganze Verantwortung an die öffentliche Hand abschieben.

Pro Woche gibts Gutscheine für 60 Franken
Jeden Mittwoch findet also die obligate Fahrt an den Berninaplatz in Zürich statt, wo die Menschen mit NEE mit ihrem «Ausweis» darauf warten, an das Sozialamt am Schaffhauserplatz weitergewiesen zu werden. In diesem Ausweis, einem knapp visitenkartengrossen Papierchen, stehen Name, Registrierungsnummer des Bundesamts für Migration, Nationalität und Geburtsdatum sowie das Datum des Eintritts in die Nothilfe. Zudem ziert ein Digitalfoto das Papierchen. Ein roter Stempel über dem Foto vermerkt das Ablaufdatum – der Ausweis ist stets nur eine Woche gültig –, und auf der Rückseite wird die Adresse des Zentrums aufgestempelt, in das die betreffende Person zugewiesen wird. Beim Sozialamt erfährt der Nothilfeempfänger dann, wo er für die nächste Woche hingewiesen wird (Frauen und Kinder werden noch nicht «dynamisiert»).
Seit kurzem müssen die Betroffenen zweimal in der Woche, am Mittwoch und am Freitag zwischen 10 und 12 Uhr oder zwischen 14 und 16 Uhr im jeweiligen Zentrum Präsenz markieren. Dann werden je drei Zehnfranken-Gutscheine der Migros abgegeben. Diese Gutscheine müssen für alles reichen: Essen, Kleider, Hygieneartikel, Billette usw. Weil die meisten sich das Geld für Tickets und Handykosten vom Mund absparen, sind sie ständig hungrig. Kleider können sie sich sowieso nicht leisten. Abgegeben wird Kleidung nur sporadisch und bei «guter Führung».
Besonders diskriminierend ist, dass nicht alle Migros- Filialen in der Nähe der Zentren Rückgeld auf die Gutscheine geben. Das Durchgangszentrum Töss ist der einzige Ort, wo nach fünf Platzierungen Seife, Zahnbürste und Zahnpasta abgegeben werden.
Neben der Unsicherheit im Alltag leiden die Flüchtlinge mit NEE besonders unter der Perspektivlosigkeit. Das aufgezwungene Nomadenleben verunmöglicht es, die Papiere zusammenzuhalten, Vertrauen untereinander aufzubauen oder Kontakte mit der Aussenwelt zu knüpfen. In dieser totalen Armut und Isolation verkümmern die Menschen geistig und körperlich, alles dreht sich nur noch um Essen und Sicherheit.
Dazu kommt die Angst, von der Polizei kontrolliert und wegen illegalen Aufenthalts inhaftiert zu werden. Die «Dynamisierung» ist eine äusserst grausame Art, Menschen ihrer Würde und ihrer Autonomie zu berauben. Und sie hinterlässt kaum sichtbare Spuren.
«Erfolge» im Sinne von Ausreisen sind übrigens fast keine zu verzeichnen. Wer mit einem NEE lebt, versinkt oft – wie das auch bei abgelehnten AsylbewerberInnen beobachtet werden kann – in Resignation und Passivität. Ist der Magen leer, verweigert der Kopf das Denken. Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung führen zu Aussagen wie: «Wenn die Schweiz uns nicht aufnehmen will, sollen die Behörden uns doch direkt bei der Ankunft erschiessen!»


augenauf Zürich

Durchgangszentren Adliswil, Kempttal, Töss und Hinteregg sowie die Notunterkunft Uster; das Durchgangszentrum Aspholz ist für «Spezialfälle» (Drogenabhängige, Frauen mit Kindern, psychisch Kranke) bestimmt.

«Die Fremdmacher»

Anni Lanz, seit über 20 Jahren aktiv in der Asylbewegung, langjährige Sekretärin der Bods (Bewegung für eine offene, demokratische und solidarische Schweiz) und von Solidarité sans frontières, hat zusammen mit dem Zürcher Schriftsteller Manfred Züfle ein Buch geschrieben: «Die Fremdmacher – Widerstand gegen die schweizerische Asyl- und Migrationspolitik.» Lanz und Züfle beschreiben mit viel Empathie, wie Menschen ausgegrenzt und fremd gemacht werden und wie wichtig und notwendig es ist, Widerstand zu leisten.

Anni Lanz, Manfred Züfle: «Die Fremdmacher» –Widerstand gegen die schweizerische Asyl- und Migrationspolitik. Zum Jubiläum von Solidarité sans frontières, edition 8, 144 Seiten, broschiert, Fr. 22.–, ISBN 3-85990-090-x. Erhältlich unter sekretariat@sosf.ch, Tel. 031 311 07 70 und im Buchhandel.

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