Bulletin Nr. 50; September 2006

Staatsanwaltschaft entschädigt Zürcher Todespolizisten für die «Umtriebe»!

Tod durch Festnahme

Bei seiner «Festnahme» starb am 29. April 2004 in Brüttisellen (ZH) unter den Füssen von drei Zürcher Kantonspolizisten der 40-jährige Familienvater Claudio M. Bei den Wiederbelebungsversuchen wurde das Polizeiopfer ein zweites Mal auf vielfältige Weise verletzt. Ein Gutachten des Zürcher Instituts für Rechtsmedizin mag sich nach über 12-monatigem Studium nicht auf eine klare Todesursache festlegen.

Die Untersuchungen zum Brüttiseller Todesfall leitete Staatsanwalt Hans-Jakob Weiss – und dies zu Beginn überaus aktiv: Als Erstes verordnete er am folgenden Tag fünf Zeugen des Tatgeschehens unter Strafandrohung eine Schweigepflicht. Dennoch drangen Zeugenaussagen nach aussen, welche die Übergriffe der drei Uniformierten dokumentieren: «Der Polizist am Fussende stand mit beiden Füssen auf den gespreizten Beinen von Claudio M.» Oder: «Einer der uniformierten Beamten stand Claudio M. mit dem Fuss mehrmals auf dessen rechte Wade» Und: «Jedesmal, wenn Claudio M. noch etwas sagte, ist der Polizist wieder auf seine Wade getreten». Danach gerieten die Untersuchungen ins Stocken. Auch das Zürcher Instituts für Rechtsmedizin (IRM) brauchte ein volles Jahr, um die vom Leichnam gewonnenen Gewebeproben sowie die Verletzungsbilder auszuwerten.
Weder Staatsanwaltschaft noch das IRM liessen sich durch bangende Hinterbliebene und neugierige Medien zur Eile verleiten. Gleichwohl stellte das IRM schon bald klar, dass die drei Polizisten «alles richtig gemacht» hätten und sie deshalb keine Schuld träfe. In Claudios Körper konstatierte das IRM zudem 60 ng/ml Kokainspuren. In einem Aufsatz aus einer Fachzeitschrift, die 1987 in den USA erschien, fand das IRM seine Vorahnung bestätigt: Der Genuss von «Cocain» kann den (einnehmenden) Körper so aufwärmen, dass ein Herz-/Kreislaufstillstand als Todesursache «nicht auszuschliessen ist». Die durch die Witwe angezeigten Polizisten sagten passend zu diesem IRM-Resultat aus: Sie hätten an Claudio M. weit aufgerissene und starre Augen sowie unglaublich grosse körperliche Kräfte, Geifer und weitere Merkmale bemerkt, die einen solchen Befund erhärten könnten. Zudem gaben die angezeigten Polizisten zu Protokoll, Claudio M. «habe eine Alkoholfahne gehabt» und «nach Alkohol gerochen». Das angebliche Alkoholproblem sollte allerdings ein blütenweisses Polizei-Konstrukt bleiben, denn entgegen aller Absprachen konnte durch die chemisch-toxikologische Untersuchung beim IRM «kein Trinkalkohol nachgewiesen» werden.
41 Tage nach dem tödlichen Tathergang rief der Staatsanwalt zur Tatrekonstruktion. Allerdings nicht am Tatort selber, sondern in einer Halle in Bülach. Weiss wollte damit den Polizisten, unter dessen Händen Claudio M. starb, etwas Schonung auferlegen. Für Aussenstehende, wie zum Beispiel den Kläger-Anwalt, brachte die Rekonstruktion klar und eindeutig zu Tage, dass Claudio M. durch Erdrücken erstickte. Danach delegierte Weiss den Fall zur weiteren Untersuchung ans IRM. Dieses war im Januar 2005 aber mit Tsunami-Opfern im Fernen Osten beschäftigt, weshalb es die vom Leichnam des Opfers in Brüttisellen genommenen Gewebeproben noch immer nicht untersuchen konnte. Erst am 10. Mai 2005 lag Untersuchungsrichter Weiss das IRM-Gutachten vor, welches zuerst an die Medien ging, bevor es die Hinterbliebenen erreichte.

Fr. 3300.– als «Genugtuung für erlittene persönliche Belastung»
28 Monate nach der Tötung stellte Weiss seine laschen Untersuchungen ein. Die drei Polizisten werden nicht zur Verantwortung gezogen, nicht mal angeklagt, sondern mit je Fr. 3300.– zusätzlich zum Gehalt für ihre «Umtriebe» im Rahmen der Strafuntersuchung entschädigt. Die öffentlichen Gelder werden in der Untersuchungs-Einstellungs-Verfügung als «angemessene Genugtuung für erlittene persönliche Belastung» bezeichnet.
Staatsanwalt Weiss vertröstete die Angehörigen stets von Neuem, ohne zugesagte Termine je einzuhalten. Er befand es vielmehr als «anmassend» und «arrogant», dass die verzweifelte Familie sich je länger desto mehr an den Verzögerungen der Untersuchung störte.Claudio M. wies laut Obduktionsbefund beidseitig «ausgedehnte Rippenserienfrakturen» sowie eine «Brustbeinfraktur», «Hauteinblutungen, Hautunterblutungen, Weichteileinblutungen» und massenhaft «Hautabschürfungen» auf. Sodann wurden Prellmarken auf der Stirn und über dem linken Jochbein sowie eine zirkuläre Hautabschürfung am rechten Handgelenk festgestellt. Ausserdem konstatierte das Gutachten eine «Verletzung des linken Leberlappens». Zu letzterem schrieb Weiss in seinen Untersuchungsbericht: «Die Leberruptur habe in den rund neun Stunden nach dem Ereignis (d.h. solange Claudio M. danach noch lebte) zu einem nicht unerheblichen Blutverlust von 1200 ml in den Bauchraum geführt».

«Die grosse Sonnenhitze und die Drogen»
Das IRM vermutet, nebst den Rippenserienfrakturen sowie der Brustbeinfraktur sei auch die genannte Leberruptur (eine Art Perforation, entstanden bei der Verhaftung beim Drauffallen auf aufgestapelte Lochbleche) eine Folge der polizeilichen Wiederbelebungsversuche. Daneben ortete das IRM bei Claudio M. auch noch «schwere Gewebeschäden am Gehirn sowie am Herzen». Der Untersuchungsbericht hält aber fest, die Verhaftung sei «professionell und verhältnismässig verlaufen». Es sei auch nicht selten, «dass solche Verletzungen durch eine mechanische Herzmassage entstünden». So gesehen, hatte das Opfer vom Zeitpunkt seiner Polizeibegegnung an unwiderruflich mit dem Leben abgeschlossen, denn, so der IRM-Bericht: «Claudio M. lag in Bauchlage am Boden fixiert, stand unter dem Einfluss von Kokain, war agitiert, schwitzte stark und lag zwischen 10 und 20 Minuten an der Sonne. Das Zusammenwirken dieser Faktoren habe das Eintreten eines plötzlichen Herz-/Kreislaufstillstandes begünstigt.»
Warum wohl hielt Staatsanwalt Weiss seinen Bericht so lange zurück? Schon am 10. Mai 2005 liess er sich im «Tages-Anzeiger» wie folgt zitieren: «Es war wahrscheinlich das Zusammenspiel von der Bauchlage während der Verhaftung, dem starken Kokainkonsum (60 ng/ml) und dem Wärmestau, verursacht durch die grosse Sonnenhitze und die Drogen». Woher Weiss von «starkem Kokainkonsum» sowie von «grosser Sonnenhitze» während der Verhaftung weiss, weiss niemand. Claudio M. war nur ein kleiner Gelegenheits-Kokser, und der Tatort (geschützte Eingangshalle) wies zur Tatzeit keine «besonders grosse Sonneneinstrahlung» auf.
Zur Kokain-Legende erklärt das IRM: «Es konnte in der chemischen Untersuchung des peripheren Blutes und des Urins ein starker Konsum von Kokain (60 ng/ml) nachgewiesen werden. Im Urin wurde zudem die Anwesenheit von Paracetamol nachgewiesen, während die Untersuchung in Bezug auf Opiate, Cannabis, Amphetamine, Methadon, Barbiturate, Benzodiazepine, LSD und Alkohol ein negatives Resultat zeigte».Und weiter: «Die Todesursache bleibe in zirka 1% der Fälle unklar. Dies bedeute, dass der Tod unerklärbar bleibe». Laut IRM fällt der Fall Claudio M. exakt in diese Kategorie. Weil: «Auf ein klassisches Ersticken im Rahmen eines Sauerstoffmangels könne nicht geschlossen werden». Claudio M. ist also einen unklassischen Erstickungstod gestorben. Andererseits mochte sich das IRM auf «keine eindeutige morphologisch feststehende Todesursache» festlegen. Vorsichtshalber wies Hans-Jakob Weiss jegliches Ansinnen auf ein Obergutachten kategorisch ab.

Fahrlässige Tötung?
Das IRM hat aber zumindest folgende Aussage von Polizist R.H. ignoriert: «St.E. sei Claudio M. ins Genick und auf Brusthöhe auf den Rücken gekniet, während er versucht habe, die Beine zu fixieren. (...) Er sei mit seinem Gewicht auf die Beine gegangen und habe Claudio M. gesagt, er solle ruhig sein. Da dieser immer noch gestrampelt habe, habe er ihm die Beine gekreuzt und diese mit den Fersen Richtung Gesäss gebogen und sich draufgesetzt.»
Allein diese Täteraussage müsste zwingend zu einer Anklage wegen fahrlässiger Tötung führen. Das IRM mag auf Nachhaken der Kläger hin nur soviel zugeben: «Es könne letztlich nicht ganz ausgeschlossen werden, dass Claudio M. u. a. lagebedingt einen Kreislaufzusammenbruch erlitten habe (...).» Aber: «Das zum Tode führende Ereignis sei als multifaktoriell einzuordnen, weshalb eine verbindliche prozentuale Einordnung der einzelnen Faktoren aus rechtsmedizinischer Sicht grundsätzlich nicht zulässig sei.»

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