Bulletin Nr. 49; Juli 2006

Alltag in der Notunterkunft Horgen

«Wenns schon nur Suppe gibt, dann soll sie wenigstens heiss sein»

augenauf Zürich ist ein (fast) vollständiger Jahressatz mit den Sitzungsprotokollen des «Betreuer»-Teams der Notunterkunft Horgen zugespielt worden. Sie geben einen deprimierenden Ein- blick in den Alltag der Lagerverwaltung und der Asylsuchenden.

Was tun, wenn die Essensrationen so knapp bemessen sind, dass nicht alle satt werden? Wenn der Notarzt nicht ins Flüchtlingsheim kommt? Was tun, wenn erwachsene Männer im Migros einen Slip klauen, weil sie nicht arbeiten dürfen und kein Geld bekommen, um sich Kleider zu kaufen?
Am 24. November 2002 haben die Stimmberechtigten der Schweiz die von der SVP geforderte Abschaffung des Asylrechts mit 50,1 Prozent der Stimmen abgelehnt. Am 10. Dezember 2003 ist Christoph Blocher in den Bundesrat gewählt worden. Zwischen diesen beiden Daten haben die Angestellten der «Organisation für Regie- und Spezialaufträge», kurz ORS genannt, in der Zürichseegemeinde Horgen die ständig restriktiver werdenden Bestimmungen der Flüchtlingsverwaltung in Bern und die von der damaligen Sicherheitsdirektorin Rita Fuhrer für den Kanton Zürich formulierten Ausführungsbestimmungen in die Praxis umgesetzt. Die vom Bund und den Kantonsregierungen eingeleiteten Massnahmen gaben Christoph Blocher ein Jahr später die Möglichkeit, die Senkung der Zahl der eingereichten Asylgesuche von 20 000 (2003) auf 14 000 als sein grosses Werk bekannt zu geben.

Rappenspalter
Eine dieser Massnahmen war die Einrichtung von Bunkerunterkünften im Kanton Zürich. Die so genannten Notunterkünfte (NUK) wurden und werden von der privaten Aktiengesellschaft des Herrn Eric Jaun geführt. 25 Millionen Franken Umsatz hat die ORS im Jahr 2004 mit der «Verwaltung» von durchschnittlich 3000 Flüchtlingen in den Empfangs-, Durchgangs- und Ausschaffungszentren und mit den Mandaten der Gemeinden für die Betreuung der Asylsuchenden «erwirtschaftet». Von den durchschnittlich 22 Franken, die die ORS pro Asylsuchendem bzw. Asylsuchender und Tag von den Behörden für die gesamte Versorgung erhält, muss bei der ORS nach Abzug aller Kosten noch ein Gewinn übrig bleiben – was nicht ganz einfach ist.
Die NUK Horgen hatte besonders schlechte Ausgangsbedingungen, um mit den knappen Ressourcen klarzukommen. Hier fand die «Betreuung» der Asylsuchenden an drei Standorten statt: geschlafen wurde im Bunker am Heilibach, am Tag mussten sich die asylsuchenden Frauen und Männer in einer Halle an der Zugerstrasse aufhalten, fürs Duschen und die Hygiene ging man im Kollektiv bei einem Grossverteiler vorbei. Ein Dahinvegetieren, in dem selbst die Nahrung zur Mangelware geworden war. Im Protokolleintrag der Teamsitzung vom 1. April steht zum Beispiel: «Essenausgabe: Um Diskussionen mit den Asylsuchenden zu vermeiden[,] heisst es nicht mehr ’Mittagessen von … bis’, sondern nur noch 12.00 Uhr. So weiss jeder Asylsuchender: Wenn ich pünktlich bin, erhalte ich noch genügend zu essen.» Und am 6. Februar wird neben Detailanweisungen über die Essensrationierung festgehalten: «Achtet darauf, dass die Suppe für das Abendessen frühzeitig im Steamer aufgewärmt wird. Wenns schon nur Suppe gibt, dann soll sie wenigstens heiss sein.»

Gesundheit und Strafen
Die Not hat die Teams der ORS erfinderisch gemacht. Ebenfalls am 6. Februar wird an der Teamsitzung der NUK-Horgen gemeldet, dass «2 Einwohner von Horgen Spendenkleider» mitgebracht hätten. An der Sitzung vom 8. April wird darauf hin vermerkt, ein Teammitglied habe «mit grossem Aufwand … für unsere Asylsuchenden Kleider von Verwandten und Bekannten gesammelt». Allerdings nicht genug, um alle mit guten Stücken auszurüsten.
Da es kein Geld für den Kauf von Zeitungen gibt, rief die im ORS-Team der NUK-Horgen für die «Freizeitgestaltung» verantwortliche Frau ihre KollegInnen auf: Nehmt «alle fremdsprachigen Zeitschriften ins Zentrum mit, die die Asylsuchenden lesen können». Selbst eine Videothek hat man dank einer grosszügigen Spende einer Bekannten der Freizeitverantwortlichen eingerichtet. Ob man dann auch noch den an der Teamsitzung vom 6. Februar vorgeschlagenen Kauf eines billigen Videogeräts in einem Brockenhaus realisieren konnte, steht leider nicht in den Akten.
Das waren die Alltagssorgen im Heilibach, vor deren Hintergrund die nachfolgenden Informationen zu lesen sind. Zum Beispiel jene zum Stichwort Gesundheit. Um die Kosten der Krankenversicherung tief zu halten und «unnötige» Transporte zu einer Apotheke zu vermeiden, wurde die Verantwortung für die medizinisch verordnete Methadonabgabe an drogenabhängige Asylsuchende an das völlig ungeschulte ORS-Personal übertragen.

Der Notarzt darf sich nicht weigern
Typisch ist, dass man Asylsuchenden die Anschaffung von Schuheinlagen auch dann zu verweigern habe, wenn diese ärztlich verschrieben worden sind. Da die Kosten an der ORS hängen bleiben könnten, müssten die Orthopäden im Einzelfall abklären, ob die Krankenkasse solche Schuheinlagen bezahle. Dass mit solchen Anordnungen die Beziehung zu den Ärzten nicht verbessert wird, mit denen die NUK-Leute eh schon ihre Sorgen hatten, versteht sich von selbst. Am 8. April wurde den Teammitgliedern mitgeteilt, dass der Notfallarzt sich nicht weigern dürfe, in der NUK vorbeizukommen. Sollte solches doch wieder vorkommen, sei der betreffende Notfallarzt der Leitung der NUK zu melden…
Neben Bussen, die über den Einzug des Sackgeldes von 2 Franken pro Tag nicht hinausgehen können, gibt es in der Zürcher Asylverwaltung die Sanktion des «Zentrumsverbots» – das von der ORS recht offensiv angewendet wird. Wer ein Zentrumsverbot einfängt, muss zwei Wochen lang auf die «Leistungen» der Asylverwaltung verzichten (man darf zum Beispiel in keiner Asylunterkunft mehr schlafen). Vorstufe des Zentrumsverbots ist die «schriftliche Verwarnung», die ausgesprochen wird, wenn man die Hausordnung missachtet. Zum Beispiel, wenn man sich «weigert, zu warten und vehement fordert, dass wir das machen, was ’er’ will», wie es zwei Betreuer der ORS am 18. September 2003 über den Asylsuchenden Dennis C. festgehalten haben.
In einem solchen System besteht viel Raum für Willkür. Deshalb musste auch schon mal die kantonale Asylverwaltung, die die Zentrumsverbote kontrolliert, intervenieren. Im Herbst 2003 hat das kantonale Sozialamt mitgeteilt, dass «vor allem im Winter … Zentrumsverbote zunehmend problematisch» würden. Der Horgener NUK-Chef teilte daraufhin an der Teamsitzung vom 11. November mit, dass in jedem Fall die «Zumutbarkeit» eines Zentrumsverbots abgeklärt werden müsse, da laut Fürsorgegesetz das Obdach nicht entzogen werden dürfe. Zentrumsverbote dürften deshalb nur verfügt werden, wenn weder «Selbstgefährdung » noch «Fremdgefährdung» bestehe und der Betroffene auch «alleine leben» könne.

Das Personal
Man könnte bei einer schnellen Durchsicht der Akten zum Schluss kommen, dass in Horgen kleine Lageraufseher an der Arbeit waren, die Menschen drangsalieren wollen. Dass dem nicht so war – und wohl auch noch heute nicht so ist –, macht folgendes Schriftstück deutlich. Als aus der Gemeinde Klagen über zunehmende Ladendiebstähle eintreffen, wird im Heilibach ein Diskussionspapier erstellt. Es beginnt mit der bedauernden Feststellung, dass eine Erhöhung des «Hygienegeldes» zur Bekämpfung der Ladendiebstähle leider nicht möglich sei. Um trotzdem dem Diebstahl von Produkten des Alltagsbedarfs begegnen zu können, werden in Horgen dann allerdings doch die richtigen Schlüsse gezogen. Seife und Zahnpasta würde weniger oft gestohlen, wenn man den Asylsuchenden beim Check-In einen Hygienebeutel abgeben und die Installation von Seifenspendern in den Duschen in die Wege leiten würde, heisst es unter anderem. Und um die hohe Rate von verschwundenen Thunfischdosen in Coop und Migros zu reduzieren, müsste man Zwischenmahlzeiten und die Abgabe von Früchten und Dosen ins Auge fassen, schreiben Leute des ORS-Teams.
Die kleinen Exekuteure der Lagerverwaltung, die aus den ORS-Dokumenten sprechen, lassen sich wohl nicht so leicht in ein Opfer-Täter-Schema einordnen. Sie scheinen vielmehr Produkte des Systems der privatisierten Flüchtlingsverwaltung zu sein, die seit Beginn des neuen Jahrhunderts in der Schweiz um sich greift. Folgende Facetten zur Personalpolitik der ORS verdichten diesen Befund. Sie sind besonders interessant, weil sie zeigen, wie der Umgang mit den Flüchtlingen auch den Umgang mit den Angestellten prägen kann. Als der Wunsch geäussert wird, dass die MitarbeiterInnen der Zentren wegen der hohen Zahl von drogenabhängigen Asylsuchenden auf Kosten der ORS gegen Hepatitis B geimpft werden, teilt der Zürcher ORS-Chef mit, man werde vielleicht die Hälfte der Impfkosten von 80 Franken übernehmen. Und als am 18. September 2003 am zentralen Treffen der Zentrumsleiter eine verdiente Mitarbeiterin Super- und Intervision für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einfordert (als Instrument der Krisen- und der Stressbewältigung), gab der Boss ein striktes Njet bekannt. Es bestehe die Möglichkeit, sich bei Problemen mit anderen Zentrumsleitern abzusprechen. Es gebe genügend qualifizierte Personen, die für solche Situationen geschult seien.
Solche Aussagen lassen aufhorchen, weil sich die ORS im gleichen Jahr bei der Zürcher Fachhochschule für Soziale Arbeit als Ausbildungsplatz andienen durfte. Die Hoffnung auf billiges Praktikumspersonal hat die ORS-Bosse veranlasst, ein umfangreiches Ausbildungskonzept erarbeiten zu lassen, dessen blumige Formulierungen einen argen Kontrast bilden zu den Protokollen aus dem Teamalltag.

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