Bulletin Nr. 48; April 2006
Skandalöses Urteil im Aubonne-Prozess: Polizisten wurden freigesprochen
«Eigentlich sei es unsere eigene Schuld»
Um die Delegierten des G8 Gipfels 2003 in Evian an der
Anfahrt zu hindern, seilten sich Gesine Wenzel und Martin
Shaw von einer Autobahnbrücke ab. Ein Polizist schnitt das
Kletterseil durch. Shaw stürzte 23 Meter in die Tiefe. Ein
Schweizer Gericht sprach zwei Beamte Mitte Februar 2006
frei. Die AktivistInnen gehen in Berufung.
Gesine Wenzel fasst für augenauf alle Ereignisse zusammen: Vom
brutalen Vorgehen der Polizei am 1. Juni 2003 auf der Aubonne-
Brücke bis zum Gerichtsprozess gegen die zwei angeklagten Polizisten
Claude Poget und Michael Deiss in der Woche vom 17.
Februar 2006.
Was hat sich am 1. Juni 2003 genau zugetragen?
Gesine Wenzel:Wir haben am 1. Juni 2003, als der G8-Gipfel in
Evian stattfand, eine Autobahnblockade durchgeführt. Wir wussten,
dass sich morgens eine nicht offizielle Delegation, die zum
G8 wollte, auf den Weg von Genf nach Lausanne machen würde.
Die Blockade wurde auf dem Teil der Autobahn durchgeführt, der
über einen Fluss führt. Wir hatten auf etwa einem Meter Höhe
quer über die Autobahn ein Seil gespannt und uns an beiden
Enden abgeseilt, so dass wir etwa 20 Meter über dem Fluss hingen.
So blockierte das Seil die Strasse. 100 Meter davor hatten
wir eine Sicherheitsblockade errichtet.
Die Polizei hat sofort nach dem Eintreffen begonnen, die
Strasse zu räumen – ohne den Menschen zuzuhören, die erklärten,
dass da zwei Kletterer am Seil hingen. Sie hoben das Seil an,
damit die AutofahrerInnen unten durchfahren konnten, was an
sich schon sehr gefährlich ist. Ein Polizist ist dann plötzlich herangefahren,
hat sein Messer ausgepackt und das Seil durchgeschnitten.
Martin Shaw ist 20 Meter in die Tiefe gefallen, hat
sich den rechten Fuss zerschmettert, den Rücken angebrochen
und das Becken gebrochen und kann sich bis heute nicht frei
bewegen. Mich haben die AktivistInnen auf der Brücke in letzter
Sekunde festhalten können. Sie sind sofort zu Martin herunter
geklettert, um ihm zu helfen. Später sind noch PolizistInnen dazugekommen.
Der Polizist, der das Seil durchgeschnitten hat, hatte
unterdessen nichts Besseres zu tun, als die Autos durchzuwinken.
Es gab darauf einen Prozess gegen beide, Martin und dich?
Drei AktivistInnen der Aubonne-Brücke standen am 28. Juni 2004
wegen gefährlichen Eingriffs in den S trassenverkehr vor Gericht,
was auch die Gefährdung der AutofahrerInnen beinhaltet. Wir
wurden schuldig gesprochen und erhielten Haftstrafen auf
Bewährung, weil wir das Leben der AutofahrerInnen aufs Spiel
gesetzt hätten, obwohl wir alle möglichen Sicherheitsmassnahmen
ergriffen hatten.
Jetzt gab es diesen Prozess gegen zwei Polizisten, die am 1. Ju
ni 2003 auf der Brücke anwesend waren. Sie wurden frei
gesprochen – mit welcher Begründung?
Es waren zwei Polizisten vor Gericht, einer aus Schaffhausen, der
das Seil durchgeschnitten hat. Er war eigentlich nur Fahrer und
hätte gar nie in das Geschehen eingreifen müssen. Der andere
wurde angeklagt, weil er den Verkehr geöffnet hatte und seinen
Untergebenen, den Fahrer, nicht informiert hatte, dass da noch
zwei Menschen am Seil hingen. Er behauptete aber, er hätte dies
gar nicht gewusst. Wir hatten von Anfang an gegen diese beiden
Anzeige erstattet. Der Fall wurde von der Staatsanwaltschaft
zuerst lediglich mit der Begründung archiviert, es sei unsere eigene
Schuld gewesen, weil wir uns auch einfach dorthin gehängt
hätten. Daraufhin haben wir Einspruch eingelegt, was von der
Anklagekammer überraschenderweise akzeptiert wurde. Es wurde
erneut Anklage eingereicht gegen diese zwei Polizisten, und
zwar wegen fahrlässiger schwerer und leichter Körperverletzung.
Wir hatten eigentlich auf Lebensgefährdung plädiert, was die
Staatsanwaltschaft jedoch nicht akzeptierte.
Es gibt ein Video dieser Blockade-Aktion, in dem man genau sieht,
dass der Polizist wissentlich das Seil durchgeschnitten hat.
Ja, er stellt sich jetzt einfach hin und sagt, er hätte von nichts
gewusst. Mensch kann ja nicht wissen, was im Kopf des anderen
Menschen vor sich geht. Deshalb ist jetzt schwerlich das Gegenteil
beweisbar. Das besagte Video kann auf unserer Homepage
www.aubonnebridge.net angeschaut werden. Ohne dieses Video
wäre es nie zu einem Prozess gekommen. Sie hätten es einfach
vertuschen können. Montag bis Mittwoch standen nun diese beiden
Polizisten vor Gericht. Es waren Zeugen der AktivistInnen
anwesend und Zeugen der anderen Polizisten, die noch auf der
Brücke waren, von den polizeilichen Kontrollzentren sowie von
der G8-Organisation. Die haben sich eine Entschuldigung nach
der anderen einfallen lassen, haben die ganze Zeit uns angeklagt
und gesagt, es sei eigentlich unsere Schuld gewesen. An der
Urteilsverkündung hat der Richter dann nur die Argumente der
Verteidigung und der Staatsanwaltschaft wiederholt und hat die
beiden Polizisten freigesprochen.
Wie war die Stimmung im Gerichtssaal?
Wir waren auf diesen Urteilsspruch vorbereitet, weil zum einen
die Staatsanwaltschaft, welche die beiden angeklagt hatte, am
Mittwoch schon auf Freispruch plädiert hatte, und zum anderen
hatten wir auch gar nichts anderes erwartet. Wir glauben weder
an diesen Staat noch an dieses Justizsystem und haben auch
nicht damit gerechnet, dass dieses Justizsystem Gerechtigkeit
ausüben würde. Es war uns klar – das haben wir auch in aller
Öffentlichkeit erklärt – dass dieser ganze Prozess v on Anfang an
nur inszeniert war, um der Öffentlichkeit vorzuspielen, dass es so
etwas wie Gerechtigkeit gäbe. Le tzten Endes haben wir das mitgemacht,
um zu zeigen, dass die Polizei immer straflos ausgeht,
dass irgendwelche Argumente vorgeschoben und irgendwelche
Lügen erfunden werden, um der Polizei den Rücken zu decken
und Polizeibrutalität immer wieder zu übertünchen.
Die Begründung des Richters war zum einen, dass die Polizei
zuvor nie solche Aktionen gesehen hatte und somit nicht darauf
vorbereitet war und nicht wusste, wie sie damit umzugehen hatte.
Zum anderen, dass sie auf Grund des G8 unter so viel Stress
stand, dass Mensch so was verstehen könne. Hier wird auf einer
Ebene argumentiert, die überhaupt nichts mehr mit Gesetz zu tun
hat, die Begründung an sich ist unglaublich.
Möchtest du noch etwas ergänzen?
Ich möchte mich nochmals bei allen bedanken, die uns unterstützt
haben. Es war schön zu sehen, dass Leute uns beistehen,
dass wir unter uns Einigkeit haben, dass wir nichts von diesem
Justizsystem erwarten, es aber trotzdem für wichtig halten, die
polizeiliche Straflosigkeit und die polizeiliche Brutalität in den
Medien immer wieder zu thematisieren.
augenauf Zürich
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