Bulletin Nr. 47; Dezember 2005

Buchrezension: «Das Ende des Rechtsstaats»

«C’est la Suisse»

Weil einem Ehepaar 327.70 Franken im Monat fehlen, soll die Gattin ausgewiesen und Artikel 8 der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)* ausser Kraft gesetzt werden.
A. ist seit 1999 anerkannter Flüchtling und hat eine Aufenthaltsbewilligung C, das heisst, er kann sich überall in der Schweiz niederlassen. A. ist nicht mehr ganz jung, Zeit also für eine Familiengründung. Wegen der politischen Probleme und der Flucht war ihm dies jahrelang verwehrt. Er verlobt sich mit einer jungen Frau aus seinem Kulturkreis, aber nicht aus dem Heimatland. Verwandtschaftliche Beziehungen haben die Bekanntschaft ermöglicht.
Seine wirtschaftliche Existenz in der Schweiz scheint gesichert, aber nach Vollbeschäftigung während längerer Zeit erleidet er eine arbeitsbedingte Erkrankung und muss operiert werden. Einige Monate lang ist er nur zu 50 Prozent arbeitsfähig, die Hälfte des Lohnes bezahlt die obligatorische Versicherung. Die Ausländerbehörde seines Wohnkantons lehnt es ab, für seine Braut ein Einreisevisum zu erteilen, weil er noch keine 50- Prozent-Stelle gefunden hat. Ein Rekurs geht an die Regierung. Unterdessen hat das Zivilstandsamt des Wohnortes die beglaubigten Papiere der Frau erhalten und erteilt die Bewilligung zur Eheschliessung – mit einer Frist von drei Monaten. Was tun? Endlich findet er einen Halbtagsjob in seinem Beruf. Der Rekurs wird zurückgezogen, unter Kostenfolge: Die Hälfte des entrichteten Vorschusses bleibt in der Staatskasse. Die Ausländerbehörde erlaubt nun die Einreise zur Trauungsvorbereitung. Knapp vor Fristende, einen Tag nach der Ankunft, ist Hochzeit.

 
Zwischen Hoffen und Bangen
Jetzt muss für die frisch verheiratete Frau ein Gesuch um Familiennachzug eingereicht werden, das Visum war ja nur zum Zweck der Heiratsvorbereitung erteilt worden. Die Eheleute finden unterdessen eine passende Wohnung, günstig im Preis und nahe beim Arbeitsplatz – aber ennet der Kantonsgrenze! Das Prozedere der Aufenthaltsbewilligung fängt von vorne an; banges Warten, ohne Ausweis traut sich die junge Frau kaum aus dem Haus. Zu allem Unglück geht auch noch der Halbtagsjob zu Ende, der Mann muss stempeln. Jetzt fangen die Beamten des Ausländeramtes zu rechnen an – und rechnen und rechnen, und siehe da, das Einkommen des Paares liegt um 327.70 Franken unter der Grenze der SKOS-Richtlinien** für einen Zweipersonenhaushalt. Fürsorge bezogen haben sie allerdings keinen Rappen! Ein amtlicher Brief flattert ins Haus, das so genannte rechtliche Gehör zur beabsichtigten Ausweisung der Ehefrau wegen erheblicher Armutsgefahr. Jetzt wird die Lage ernst. Gleichzeitig mit der Antwort an die kantonale Behörde wird ein Gesuch ans Bundesamt für Migration zum Einschluss ins Asyl des Ehemannes eingereicht. Das Asylgesetz erlaubt dies für Ehegatten und minderjährige Kinder, ohne dass persönliche Fluchtgründe vorhanden wären. Die Verfügung des Kantons lässt nicht lange auf sich warten: Das Gesuch um Familiennachzug wird abgelehnt, das Ausweisungsdatum steht bevor. Um dem besagten Artikel 8 der EMRK Genüge zu tun, wird dem anerkannten Flüchtling zugemutet, seinen Wohnsitz im Heimatland der Frau zu nehmen, das heisst, auf den Schutz seines Flüchtlingsstatus zu verzichten – all dies wegen 327.70 Franken im Monat. Der positive Asylentscheid kommt rasch. Am Telefon mokiert sich der zuständige Sachbearbeiter des Bundesamtes leicht über die Entrüstung der Rechtsvertreterin: «Mais, qu'est-ce que vous voulez? C’est la Suisse!»


augenauf Zürich
* Art. 8 der EMRK Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens:
(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. (2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. ** SKOS Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe – Richtlinien für die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe.

Kein Mensch ist illegal
Die Anlaufstelle für Sans Papiers hat eine Broschüre für die rund 100 000 Menschen in der Schweiz herausgegeben, die über keine geregelte Aufenthaltsbewilligung verfügen. Die Schrift orientiert die Sans Papiers über ihre Rechte, gibt zahlreiche hilfreiche Tipps und beinhaltet nützliche Adressen. Die Broschüre gibt es auf Deutsch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Englisch, Albanisch, Türkisch und Serbokroatisch. Sie kann bei der Anlaufstelle für Sans Papiers, Rebgasse 1, 4058 Basel bestellt werden.

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