Bulletin Nr. 44; Dezember 2004

Die Zustände in Tessiner Gefängnissen treiben Häftlinge in den Tod

Tödliche U-Haft in Bellinzona

Während der Untersuchungshaft in Bellinzona bringt sich ein minderjähriger Mann aus Nigeria um. Der Tod dieses Mannes wirft verschiedene Fragen auf.
Am 1. September 2004 hat sich Anthony während der Untersuchungshaft (U-Haft) in Bellinzona umgebracht. Der Selbstmord des 17-Jährigen aus Nigeria war ein Schock für die Community afrikanischer Asylsuchender. Protestaktionen und eine Demonstration in Lugano (unterstützt von der Organisation «senza voce» und dem Kulturzentrum «Molino») forderten die Aufklärung der Todesursache von Anthony und wendeten sich gegen die systematischen, rassistisch motivierten Kontrollen und die immer häufigeren brutalen Übergriffe seitens der Polizei. Der Fall «Anthony» geht jedoch über den Vorwurf rassistischen Vorgehens der Polizei hinaus. Bekannte von Anthony sowie Demonstrierende wollen die Wahrheit über seinen Tod wissen. Die offizielle Untersuchung hat den Selbstmord bestätigt. Warum aber bringt sich ein minderjähriger Mensch in U-Haft um?
 
Suizidprävention durch Gefängnisneubau?
Anthony ist kein Einzelfall: Weitere Suidzifälle während der U-Haft in Tessiner Gefängnissen sind aus diesem und den letzten Jahren bekannt. Anthonys Tod rückt eine schon seit längerem bestehende Debatte wieder in den Vordergrund: die Zustände während der Untersuchungshaft in den Tessiner Gefängnissen. Schon 1996 wurden in einem Bericht des CPT (Europäisches Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe*) die Gefängnisstrukturen des Kantons Tessin als äusserst kritisch und für die Untersuchungshaft als absolut «ungeeignet» befunden. Der Staatsrat erwog in der Folge, einen neuen Gefängnisbau zu errichten. Im Dezember 2003 reichte Luciano Poli (Lega) eine parlamentarische Anfrage ein, in der er feststellte, dass die Zustände in der U-Haft mit der Definition von Folter übereinstimmen. Gemeint ist psychische Folter, eingesetzt mit dem Ziel, das menschliche Wesen durch Stress- und Angstzustände sowie Hervorrufen von Minderwertigkeitsgefühlen zu erniedrigen, bis physischer und moralischer Widerstand gebrochen sind. In der Anfrage wird betont, dass die oben erwähnte Situation nichts mit einem fehlenden Gefängnisneubau zu tun habe; fehlender Respekt vor Menschenrechten lasse sich nicht mit strukturellen Problemen entschuldigen, in anderen Kantonen mit ähnlichen logistischen Situationen werde schliesslich auch keine Folter praktiziert. Der Staatsrat bestätigte die prekäre Gefängnissituation im Allgemeinen, wies jedoch alle Vorwürfe von sich und betonte, dass bis 2005 ein neuer Gefängnisbau aufgestellt sein werde. Zudem argumentierte er, dass zwischen einem in U-Haft begangenen Selbstmord und dem Gefängnisalltag kein kausaler Zusammenhang bestehe: Eine Person, welche Selbstmord in der Zelle begehe, sei schon vorher suizidgefährdet gewesen. Aber auch die kantonale Kommission für die Überwachung der Haftzustände in den Tessiner Gefängnissen berichtete im Mai 2004, dass keine einzige Zelle der Tessiner Gefängnisse zur Benutzung geeignet sei. Speziell problematisch sei die Unterbringung von Personen, welche nur aufgrund eines Verdachts oder wegen kleinerer Delikte verhaftet worden sind: Wer sich in solchen Strukturen wiederfinde, könne zu «ungesunden Handlungen» getrieben werden. Trotz der oben erwähnten Zustände müssen Verhaftete weiterhin in Tessiner Strafanstalten ihre U-Haft antreten. Trotz der in den letzten Jahren vorgekommenen Selbstmorde wird einzig darauf hingewiesen, dass ja bald ein neues Gefängnis bereitstehe. Es besteht die Tendenz, die Gefängnisproblematik als rein strukturelles Problem zu verharmlosen. augenauf Bern * CPT = Comitée européen pour la prévention de la torture et des peines ou traitements inhumains ou dégradants: www.cpt.coe.int

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