Bulletin Nr. 43; September 2004

Ein 15-jähriger Moldawier in den Fängen der Ausschaffungsindustrie

Flucht in die Hölle

Wenn die Behörden mit unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen konfrontiert sind, verkommen Gesetze zur Makulatur. Ein Fallbeispiel.
Wie andere MoldawierInnen glaubt auch die Mutter des damals 15-jährigen Ivan (Name geändert), mit der Flucht in die Schweiz beginne ein besseres Leben. Mutter und Sohn folgen dem älteren Halbbruder, der bereits 1993 in der Schweiz Asyl beantragt hat. Doch für Ivan wird die Flucht in ein besseres Leben zum Horrortrip. Zum Vater der Familie besteht schon lange kein Kontakt mehr. Auf der Flucht verliert er auch noch die Mutter aus den Augen. Seit seiner Einreise in die Schweiz im September 2002 hat er nichts mehr von ihr gehört. Eigentlich hätte Ivan als unbegleiteter, minderjähriger Asylbewerber laut Gesetz Anspruch auf den Beistand einer rechtskundigen Person. Pech für ihn, dass er ausgerechnet im Kanton Baselland sein Asylgesuch stellt. Zwar bestellt der Kanton für ihn eine Person aus dem Justizdepartement als Beistand. Doch Ivan bekommt diese Person nie zu Gesicht und auch in den Akten zu seinem Asylverfahren taucht die Person nie namentlich auf. Mit der Zuweisung in ein Wohnheim wird die Gemeinde Allschwil für die Begleitung zuständig. Aber auch die Gemeindebehörden versäumen es, Ivan einen Beistand zur Seite zu stellen. Einzig die Betreuer des Wohnheims versuchen ihn zu beraten. Von der gesetzlich vorgeschriebenen rechtlichen Unterstützung kann also keine Rede sein. Die einzige Bezugsperson des Teenagers ist sein älterer Halbbruder, der bereits in einem anderen Kanton in Ausschaffungshaft sitzt. Doch Ivan erhält im März 2004 wegen zwei Bagatelldelikten (Schwarzfahren und Ladendiebstahl) eine so genannte Eingrenzung. Das heisst, er darf den Kanton Baselland unter Haftandrohung nicht verlassen. Damit bricht der Kontakt zum Bruder ab und der mittlerweile 16-Jährige ist ganz auf sich allein gestellt. Im Mai 2004 wird der Bruder ausgeschafft, und auch der telefonische Kontakt bricht ab. In der Zwischenzeit wird auch Ivans Asylgesuch abgelehnt. Kurz darauf erfährt er, dass sein Bruder nach einem schlimmen Unfall irgendwo im Spital liegt und in Lebensgefahr schwebt. Mehr sollte er über sein Natel erfahren.
 
Das Wunder des verschwundenen Handys
Kurz darauf wird Ivan verhaftet und im Bässlergut (BS) in Ausschaffungshaft genommen. Es geht ihm sehr schlecht. augenauf zieht eine Anwältin bei. Auch sie kann eine Haftverlängerung nicht verhindern. Das Handy wird beschlagnahmt - seine einzige Kontaktmöglichkeit, um herauszufinden, wo sein Bruder ist. Als seine Anwältin versucht, das Natel auszulösen, ist es plötzlich verschwunden. Weder die Baselbieter Fremdenpolizei noch die Polizei, die ihn verhaftet hat, wollen etwas wissen. Auf der ungültigen, weil nicht unterzeichneten Effektenliste, erscheint es nicht. Auch während der gesamten Ausschaffungshaft stellen die Behörden keine juristische Begleitperson und keinen Vormund zur Verfügung. Der Jugendliche bleibt sich selbst überlassen. Am 5. August 2004 wendet sich Ivan verzweifelt an augenauf. Er soll ausgeschafft werden. Er will zwar zurück, um seinen Bruder zu finden, aber dazu braucht er Unterstützung. Er kennt niemanden mehr in Moldawien und hat kein Geld. augenauf reicht ein dringendes Wiedererwägungsgesuch beim Bundesamt für Flüchtlinge ein. Unbegleitete Minderjährige dürfen nur ausgeschafft werden, wenn sie in ihrer Heimat nachweislich ein soziales Netz haben. Zu dieser Zeit begeht der verzweifelte Ivan einen Selbstmordversuch und wird in die geschlossene Abteilung der Psychiatrischen Klinik in Liestal überwiesen. In einem Gutachten stellen die behandelnden Ärzte fest, dass Ivan suizidgefährdet und nicht haftfähig ist. Auch die Ärzte suchen vergeblich nach einer rechtskundigen Begleitperson oder einem Vormund. Unbeeindruckt von den eingeleiteten rechtlichen Schritten und von Ivans Selbstmordgefährdung bucht die Fremdenpolizei Baselland eine Woche nach dem ersten Ausschaffungstermin erneut einen Flug. Ivan bricht kurz davor in einer lebensgefährlichen Aktion aus der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie aus. Seither ist er verschwunden. Trotz des dringlichen Hinweises der Psychiatrischen Klinik Liestal, dass Ivan weder hafterstehungs- noch transportfähig sei, trotz der Aufforderung der Anwältin, er sei schonend anzuhalten und trotz des hängigen Wiedererwägungsgesuchs erklärt der zuständige Beamte der Baselbieter Fremdenpolizei am Telefon, Ivan würde - falls gefunden - in eine überwachte Zelle gesteckt und dann unter ärztlicher Aufsicht ausgeschafft. Das Bundesamt für Flüchtlinge will auf das hängige Wiedererwägungsgesuch nur eintreten, wenn die Anwältin Ivans Aufenthaltsort mitteilen kann.
 
Das Gesetz interessiert doch die Behörden nicht!
Das kann sie natürlich nicht. Bis zum heutigen Tag ist Ivan nicht wieder aufgetaucht. Wie er sich wohl als 17-Jähriger allein und ohne Geld durchschlägt? Er hat die Erfahrung gemacht, dass auch in der Schweiz seine Rechte als Jugendlicher nicht berücksichtigt werden. Das Schweizer Gesetz schreibt klipp und klar vor, dass ein minderjähriger Asylbewerber ohne erwachsene Begleitung Anspruch auf einen rechtskundigen Beistand hat und nicht ausgeschafft werden darf, wenn kein soziales Netz in der Heimat besteht - nur scheint das die Baselbieter Fremdenpolizei nicht zu interessieren. Kein Wunder, will Ivan sich diesen Behörden nicht wieder ausliefern. augenauf Basel

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