Bulletin Nr. 42; Juni 2004

EP 03 NEE - leider kein Aprilscherz

Die brutale Realität hinter dem Kürzel

Per 1. April 2004 ist wirksam geworden, was das Parlament im Namen der Sparmassnahmen beschlossen hat: Dass Menschen nach Nichteintretensentscheiden von der Asylfürsorge ausgeschlossen werden. Und langsam zeigt sich das wahre Gesicht des EP 03 (Entlastungsprogramm): Hinter dem Kürzel verbergen sich Einzelschicksale, von denen sich die Gesetzgeber keine Vorstellung gemacht haben.
Der Ausschluss von der Asylfürsorge nach Nichteintretensentscheiden (NEE) gilt nicht nur für aktuelle Entscheide, sondern auch rückwirkend. Um die Kantone zu entlasten, hat das Bundesamt für Flüchtlinge (BFF) Listen der alten NEE erstellt - allerdings ohne zu prüfen, ob allenfalls Beschwerdeverfahren hängig sind. Der Kanton Aargau, bekannt für eine harte Linie, hat nun an sämtliche Personen dieser Liste eine Vorladung verschickt, wiederum ohne den Verfahrensstand zu prüfen. Im Schreiben heisst es, der Aufenthalt in der Schweiz sei widerrechtlich und der oder die Betreffende werde aus der Unterkunft verwiesen, falls sie/er die Schweiz nicht bis Ende Dezember 2004 verliesse. D. hat am 15. März 1999 ein Asylgesuch eingereicht. Am 5. Oktober 1999 wird darauf nicht eingetreten, da aufgrund eines Linguatests feststehe, dass er die Behörden über seine Nationalität getäuscht habe. Er sei Kongolese, nicht Angolaner - obwohl seine Befragung an der Empfangsstelle auf Portugiesisch geführt wurde. Der Rekurs wird abgelehnt, gegen einen Linguatest kommt man nicht an ohne handfeste Beweise. D. hat seit seiner Ankunft keinen Ausweis und keine Arbeitsbewilligung.
 
«So ist das nicht gemeint!»
2001 heiratet er mit amtlich beglaubigten Dokumenten - als Angolaner. Das BFF lehnt ein Wiedererwägungsgesuch mit der Begründung ab, ein Familienbüchlein sei kein rechtsgenüglicher Nachweis der Identität, weil kein Foto darauf sei. Seine Ehefrau ist ebenfalls aus Angola und hat als vorläufig Aufgenommene den Aufenthaltsstatus F. Eine Beschwerde ist seit Februar 2002 bei der Asylrekurskommission (ARK) hängig, am 25. April 2002 wird der Vollzug ausgesetzt. Ab diesem Zeitpunkt lebt D. völlig legal in der Schweiz. Als D. den Brief des Kantons erhält, ruft er in Panik seine Rechtsvertreterin an: Er müsse die Schweiz sofort verlassen, er sei widerrechtlich hier! Er faxt ihr den Brief des kantonalen Sozialdiensts. Ein Telefonanruf beim Abteilungsleiter: Ja, da sei das BFF zuständig, sie hätten eine Liste mit 450 Namen erhalten und natürlich nicht jedes einzelne Dossier überprüft. Ein Telefonat ans BFF: «Ja, da ist der Kanton verantwortlich, so ist das nicht gemeint mit dieser Liste!» Ob er diesen Brief habe könne, er müsse das mit dem Chef besprechen. Legal, illegal, scheissegal - so lautet ein bekannter Spruch der Jugendbewegung der Achtzigerjahre. «Doublebind» heisst es in der Sprache der Psychoanalyse. Der fahrlässige Umgang mit Asylsuchenden macht krank. D., bei seiner Ankunft in der Schweiz ein gebildeter, selbstbewusster Mann, ist heute psychisch am Boden. Der Kanton St. Gallen macht ebenfalls ernst mit den neuen Regeln. Dafür verantwortlich zeichnet Polizeidirektorin Karin Keller-Sutter, die sich an Bundesrat Blochers Seite öffentlich für eine «härtere Gangart in der Asylpolitik» einsetzt, wie dies die Medien nennen. Sie fordert, Leute, deren einziges Verbrechen ist, dass sie keine Papiere haben, auf unbegrenzte Zeit einsperren zu können. A. hat am 27. November 2000 ein Asylgesuch gestellt. Ein weiteres Mal bestreitet ein Linguatest, dass A. eine angolanische Herkunft habe. Am 8. Juli 2002 wird ein Nichteintretensentscheid verfügt. A. reicht mehrfach Dokumente ein, die das Resultat des Linguatests jedoch nicht umzustossen vermögen. A. ist krank. Er leidet an einer unheilbaren Krankheit: affektive Schizophrenie. Bei guter Behandlung und in einer verständnisvollen Umgebung kann er leidlich damit leben. Nach einem einjährigen Klinikaufenthalt kann er nun aber nicht in ein betreutes Wohnheim übersiedeln, weil die Gemeinde nicht mehr bezahlt. So wird er zurück ins Durchgangszentrum gebracht. Ein Telefonanruf an die Gemeinde ergibt: Er werde demnächst im Rahmen der Sparmassnahmen das Zentrum verlassen müssen, das sei halt so. A. ist nicht reisefähig. Sogar zu einer Vorladung ins Ausländeramt muss er von Mörschwil nach St. Gallen begleitet werden. Dort hat man ihm den Ausweis abgenommen und verlangt, dass er die Schweiz sofort verlasse. Wohin? In eines der zwei fiktiven Herkunftsländer, die ein Experte ihm vor vier Jahren zugeordnet hat? Wer spinnt denn da?
 
Vom Umgang der Kantone mit Verfassung und Gesetz
Die von der Asylfürsorge Ausgeschlossenen haben laut Bundesverfassung (BV) Anrecht auf Nothilfe. Im Artikel 12 der BV heisst es: «Recht auf Hilfe in Notlagen. Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.» Kein Wort von befristeter Hilfe. Es ist offensichtlich, dass eine weggewiesene Person in Not ist, ohne Obdach, ohne Geld, ohne Arbeitsbewilligung. Die Kantone interpretieren nun diese Nothilfe, wie es ihnen gefällt. Fünf Tage Unterkunft und vorgekochtes Essen, zum Beispiel im Kanton Aargau. Am Freitag Nachmittag vor Pfingsten ruft S. an: Er ist aus dem Durchgangszentrum rausgeschmissen worden und hat nun fünf Tage in einem Notlager verbracht. Jetzt steht er auf der Strasse. Was nun? «Setz dich vor die Kirche, sichtbar, bettle die Leute um Essen an!», kann man ihm raten. Er muss nicht befürchten, in Ausschaffungshaft zu kommen, die hat er schon hinter sich. Im Mittelalter waren es die Klöster, die den Obdachlosen Suppe verteilten. Nachdem sich der Staat von seinen Pflichten verabschiedet hat, kommen wir wohl zurück auf mittelalterliche Zustände: Betteln auf der Strasse. Es ist völkerrechtlich verboten, eine Grenze ohne gültige Dokumente zu überqueren. So begründen die Haftrichter jeweils die Ausschaffungshaft. Wenn die Behörden Leute auffordern, ohne Dokumente die Schweiz zu verlassen, verhalten sie sich völkerrechtswidrig. Wer klagt? Das Krankenversicherungsgesetz verlangt, dass jede auf dem Gebiet der Schweiz anwesende Person die obligatorische Grundversicherung abzuschliessen hat. Das Schweizerische Versicherungsgericht hat dies in einem Urteil im Dezember 2002 bestätigt. Die Kantonsregierungen reduzieren die ärztliche Versorgung für NEE-Abgewiesene auf Notfälle, ohne eine Grundversicherung abzuschliessen. Gelten Bundesgesetze für Kantone nicht mehr? Wann war es, als Max Frisch von einem verluderten Staat sprach? augenauf Zürich

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