Bulletin Nr. 39; Oktober 2003

Die Glarner Polizei misshandelt und demütigt Asylbewerber

«Das machen wir immer so»

Bei einer Razzia im Kanton Glarus kam es in drei Durchgangszentren für Asylsuchende zu massiven Menschenrechtsverletzungen. Die Kantonspolizei Glarus streitet nichts ab, findet ihr Vorgehen aber «normal». Ein gefährlicher Präzedenzfall.
Anfang Juli erhielt augenauf einen Anruf eines Gewerkschafters. Er wusste Unglaubliches zu erzählen. Er habe gehört, Antiterror-Einheiten hätten in Glarus ein Durchgangszentrum (DZ) überfallen, die Bewohner gefesselt und nackt fotografiert. Am nächsten Tag reisten augenauf und der GBI-Mann nach Glarus, um die Opfer zu dem Vorfall zu befragen. Die Realität war noch erschreckender als das Gerücht: Am 3. Juli, frühmorgens um ca. 5.30 Uhr, stürmten maskierte Glarner Polizisten in dunklen Overalls je ein Durchgangszentrum für Asylsuchende in Ennenda und in Linthal. Sie brachen die Eingangstüren der Zentren mit Hämmern auf und öffneten anschliessend sogleich mit Gewalt die Türen zu den Schlafzimmern - auch jene, die nicht verschlossen waren. Die Flüchtlinge wurden, teils unter vorgehaltener Waffe, mit Kabelbindern an Händen (hinter dem Rücken) und Füssen gefesselt. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste noch keiner der Betroffenen, dass es sich bei den brutalen Eindringlingen um Glarner Polizisten handelte, so die übereinstimmenden Berichte. Die Polizisten verboten jede Lautäusserung.
 
Tiefe Demütigung
Sofort begann ein äusserst demütigendes Verfahren. Die Beamten zogen den gefesselten Männern eine Art Kapuze über den Kopf, so dass sie nichts mehr sehen konnten. Darauf drehten die Polizisten die Flüchtlinge auf den Bauch und zogen ihnen die Pyjama-Hosen und Unterhosen bis zu den Knien runter. Anschliessend spürten die Gefesselten, wie ihnen ein Klebeband auf den Rücken geklebt wurde. Später stellte sich heraus, dass darauf die Zimmernummer sowie eine Zahl geschrieben war - sie wurden nummeriert. Dann wurden offensichtlich irgendwelche Gegenstände in die Nähe der Opfer gelegt. Mit nacktem Arsch, den Kopf verhüllt, wurden die Opfer fotografiert, sie hörten mehrmals das typische Geräusch eines Fotoapparates mit Blitz.
 
Stundenlange Qual
Die Prozedur in den Zimmern scheint lange, vielleicht zwei Stunden, gedauert zu haben. Doch damit nicht genug. Anschliessend wurden die immer noch gefesselten und mit Kapuzen blind gemachten Menschen des DZ in Ennenda in einem Raum im Parterre versammelt, wo sie nochmals mehrere Stunden ausharren mussten. Weiterhin wurde ihnen strengstes Sprechverbot auferlegt. Erst nachdem ein unterdessen eingetroffener Betreuer vom Roten Kreuz energisch intervenierte, durften einzelne eine Toilette aufsuchen, und man brachte Decken. Bevor die schmerzhaften Fesseln und Kapuzen entfernt wurden, fotografierte man die Flüchtlinge nochmals. Als die Kapuzen endlich weggenommen wurden, waren die maskierten Sonderpolizisten verschwunden und an ihre Stelle «normale» uniformierte Kantonspolizisten getreten.
 
Klebeband und ein schwerer Unfall
Während des Überfalls setzten die Polizisten das Leben der Betroffenen aufs Spiel. Beamte klebten einem jungen kurdischen Flüchtling, der an einen Angriff durch Faschisten glaubte und laut rufend zu fragen und protestieren versuchte, ein Klebeband über den Mund. Dieses wurde erst Stunden später entfernt. Der junge Mann erlitt Todesängste - und befand sich in grosser Gefahr. Ein 16-jähriger westafrikanischer Junge erschrak ob dem Überfall derart, dass er vor Schreck aus dem Fenster seines Zimmers im dritten Stock sprang. Er brach sich zwei Wirbel, wie man später im Spital feststellte. Glücklicherweise ist der Bruch stabil - dem jungen Mann geht es unterdessen, zumindest gesundheitlich, wieder leidlich gut.
 
Die 1. Lüge
Am nächsten Tag veröffentlichte die Glarner Kantonspolizei ein Communiqué. Im Lead der kurzen Mitteilung war von «beschlagnahmtem Deliktsgut» die Rede und ausserdem von vier Personen, die bei den Razzien verhaftet, respektive «in Gewahrsam» genommen worden waren. In Realität wurde genau eine Person verhaftet. Diese Person befand sich übrigens weder im DZ Ennenda noch in Linthal, sondern ordentlich angemeldet in Rüti. Soweit augenauf bekannt ist, wurden alle bei der Razzia mitgenommenen Gegenstände (Handys, Nahrungsmittel, Notizbücher) später kommentarlos wieder zurückgegeben.
 
Lüge Nr. 2: «Das machen wir immer so»
Knapp zwei Wochen nach der Razzia veröffentlichte augenauf ein Communiqué, das von den lokalen Medien stark beachtet wurde. Wir beschrieben darin die Razzia, forderten die sofortige Rehabilitierung der betroffenen Flüchtlinge, die Rückgabe der Fotos und eine schonungslose Untersuchung der Übergriffe. Die Antwort des Glarner Kripochefs Daniel Anrig war erstaunlich. Er bestätigte - mit Ausnahme einiger weniger Details - sämtliche Angaben von augenauf, meinte aber lapidar, das Vorgehen sei eben nötig gewesen. Anrig zur der «Südostschweiz»: «Der Einsatz verlief im Rahmen solcher Aktionen.» Während der Kripochef materiell alle Vorwürfe bestätigte (anscheinend hat er sich erst wenig mit Gesetzen, zum Beispiel mit der Glarner Strafprozessordnung, auseinander gesetzt), griff sein Vorgesetzter, Polizeikommandant Roy Kunz, am folgenden Tag zum Zweihänder. Pauschal verunglimpfte er in einem der Presse weitergereichten «Tagesbefehl» die Darstellung der betroffenen Flüchtlinge und von augenauf als «in weiten Teilen wahrheitswidrig».
 
Maulkörbe da und dort
Obwohl ihr Vorgehen angeblich «normal» sei (hoffen wir, dass nicht!), schien den beteiligten Polizisten nicht ganz wohl zu sein. Zumindest einem Flüchtling machten sie nämlich überdeutlich klar, dass er niemandem und schon gar nicht der Presse etwas erzählen solle. Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK), das die DZs betreut, hüllte sich seinerseits vornehm in Schweigen. Die SRK-Leitung bedeutete allen Angestellten, dass bei Aussagen gegenüber Dritten und der Presse über die menschenverachtende Razzia mit Konsequenzen zu rechnen wäre. Immerhin teilte ein SRK-Sprecher mit, man verlange «eine Untersuchung des Vorfalls» im Kanton Glarus.
 
Kehrtwende: Glarner zeigen sich selber an
Die Maulkörbe nützten nichts. Drei mutige Flüchtlinge und augenauf organisierten am 4. August in Glarus eine Pressekonferenz. Die Betroffenen schilderten noch einmal die Misshandlungen, und augenauf kündigte eine Strafklage gegen die beteiligten Polizisten an. Die Berichte der Opfer haben den Lokaljournalisten grossen Eindruck gemacht. Die «Südostschweiz», sonst eher kein Hort des Fortschritts, berichtete über die Pressekonferenz auf der Titelseite, und auch Lokalradios und das Fernsehen reportierten genau und ausführlich. Zu guter Letzt wurden sogar die «Sonntags-Zeitung» und die WOZ auf den Fall aufmerksam und begannen zu recherchieren. Der Druck auf die Glarner Regierung stieg weiter, als am gleichen Tag Amnesty International (ai) ebenfalls eine Untersuchung der Vorfälle verlangte. Bei ai in London ist man offensichtlich entsetzt darüber, dass US-Kriegsmethoden, zum Beispiel die Maskierung von Gefangenen mit Kapuzen, nun in den Schweizer Bergen zum «normalen Vorgehen» erklärt werden. Die ai-Zentrale forderte verschiedene Sektionen dazu auf, im Kanton Glarus zu intervenieren. Ausserdem verlangten zwei Glarner ParlamentarierInnen der Grünen eine Untersuchung der Vorfälle. Nachdem die Glarner Behörden das brutale Vorgehen wochenlang als «normal» hingestellt hatten, gaben sie Mitte August plötzlich bekannt, sie hätten gegen sich selbst eine Strafanzeige wegen Amtsmissbrauchs eingereicht. Begründung: Man wolle das «Kesseltreiben» beenden. Mit der Untersuchung wurde der Appenzeller Staatsanwalt Christian Bötschi betraut. Unterdessen hat ein von augenauf engagierter Anwalt eine äusserst detaillierte Strafklage im Namen von einigen betroffenen Flüchtlingen eingereicht, und Bötschi hat erste Befragungen durchgeführt.
 
Das Glarner Vorgehen darf nicht Standard werden!
Vergegenwärtigt man sich noch einmal, was die Glarner Polizei normal findet (Türen einschlagen, Fesselung, Kapuzen, Fotos von Nackten, Nummerierung von Menschen, stundenlanges Festhalten), wird klar, wie gross der Handlungsbedarf ist. Erfolgt nicht genügend Druck von der Öffentlichkeit, besteht die Gefahr, dass dieses Vorgehen tatsächlich zum gerichtlich legitimierten Standard wird. Eine genaue juristische Begleitung der Strafanzeige gegen die beteiligten Glarner Kantonspolizisten, aber auch politische Aktionen in Glarus sind notwendig. augenauf Zürich
 
 
Recht kostet!
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