Bulletin Nr. 37; März 2003

Erneut stirbt ein Asylbewerber unter staatlicher Aufsicht

Der Tod geht um

Trotz hohen Fiebers, Bluthusten, Windpocken und Halluzinationen darf Osuigwe Christian Kenechukwu das Durchgangszentrum in Oberbüren (SG) nicht für einen Arztbesuch verlassen. Er stirbt in der darauf folgenden Nacht.

Am Donnerstag, 13. Februar, gehen bei augenauf mehrere Meldungen ein: Ein afrikanischer Asylbewerber sei in einem Durchgangszentrum im Kanton St. Gallen gestorben. Die Heimleitung habe sich geweigert, eine Ambulanz zu rufen. Schnell ist der Kontakt zu den BewohnerInnen des Durchgangszentrums Thurhof in Oberbüren hergestellt. Noch am selben Abend besuchen wir das Zentrum, um mit ihnen zu sprechen. Mehrere AugenzeugInnen schildern die Ereignisse folgendermassen:
Der 22-jährige Nigerianer Osuigwe Christian Kenechukwu hat schon am Samstag Fieber, seine Haut juckt stark. Er meldet sich im Büro des Durchgangszentrums und bittet um einen Arztbesuch. Die Angestellten geben ihm ein Schmerzmedikament. Ein sofortiger Arztbesuch wird nicht organisiert. Über das Wochenende werden die Symptome stärker, der Afrikaner leidet zudem unter Appetitlosigkeit.
Am Montag meldet er sich wieder im Büro. Am Nachmittag kann er den für die Zentrumsinsassen zuständigen Arzt besuchen. Dieser diagnostiziert Windpocken und gibt ihm entsprechende Medikamente.
Osuigwe geht es am Dienstag immer schlechter. Das Fieber steigt, er beginnt wirres Zeug zu reden. Er erbricht und hustet Blut. Seine Zimmergenossen gehen ins Büro des Heimes und verlangen, dass er zu einem Arzt oder ins Spital gebracht wird. Die BetreuerInnen des Heims verweigern dies mit dem Hinweis, dass Osuigwe ja erst am Vortag beim Arzt gewesen sei.
Osuigwes Zustand verschlechtert sich am Abend zusehends. Das Fieber steigt weiter, er halluziniert und spuckt Blut. Seine Freunde bitten die Nachtwache, eine Ambulanz zu rufen. Diese meint, man könne ja am nächsten Tag nochmals zum Arzt. In ihrer Verzweiflung rufen die HeimbewohnerInnen die Polizei an. Die Verständigung ist offensichtlich schlecht. Osuigwes Freunde sagen, dass die Polizei nicht mal gewusst habe, wo Oberbüren sei.
Gegen 3 Uhr am Mittwoch Morgen ist Osuigwe tot. Jetzt ruft die wiederum benachrichtigte Nachtwache die Polizei und die Ambulanz an. Die Sanitäter versuchen noch einige Zeit, den Afrikaner zu reanimieren, dann geben sie auf. Die Polizei sperrt das Zimmer ab und macht sich an die übliche Durchsuchung nach einem Todesfall.
 
augenauf fordert eine Untersuchung
Am Freitag geht augenauf mit diesen Informationen und dem folgenden Forderungskatalog an die Presse:
- Die Eröffnung eines Untersuchungsverfahrens betreffend unterlassener Hilfeleistung und fahrlässiger Tötung gegen die Zentrumsleitung und die Verantwortlichen der Tages- und Nachtschicht vom letzten Montag.
- Eine Untersuchung betreffend mögliche Fehldiagnose des behandelnden Arztes.
- Schadenersatz und Genugtuung für die Hinterbliebenen.
- Unbürokratische Kostenübernahme für die Repatriierung des Leichnams und für das Begräbnis.
- Sofortige Suspendierung der Verantwortlichen und Ersatz durch unabhängige Personen. Die ZeugInnen des Vorgangs stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Beschuldigten.
Das Medieninteresse ist sehr gross. Ab ca. 16 Uhr berichten die JournalistInnen, dass die Behörden die Todesursache bekannt gegeben haben: Drogen. Wir sind nicht sonderlich überrascht, da dies bei fast jedem Todesfall von den Behörden in Umlauf gesetzt wird: Khaled Abuzarifa, der im Flughafen Zürich-Kloten geknebelt und gefesselt erstickte, und Samson Chukwu, der im Ausschaffungsgefängnis Granges bei Sion den «plötzlichen Gewahrsamstod» starb, wurden nach ihrem Tod auch direkt von Opfern zu Tätern gemacht, und ihr Tod somit als selbstverschuldet dargestellt. Aber kurzfristig funktioniert die mediale Abwehrstrategie der St. Galler Behörden, die Wogen glätten sich.
Das Weitere ist für augenauf schon fast zur traurigen Routine geworden: Wir nehmen mit den Hinterbliebenen und der Botschaft Kontakt auf, versuchen den InsassInnen im Heim zu erklären, was passiert ist und wie es weiter gehen wird, und besorgen für die Familie des Verstorbenen einen Anwalt.
 
Offene Fragen
Am Dienstag reicht Kantonsrätin Paola Höchner Rheineck eine Interpellation mit folgenden Fragen ein:
1. Am Samstag, 8. Februar 2003, wünschte Herr Nnamdi einen Arztbesuch; am Montag wurde er ärztlich untersucht. Am Mittwoch in der Früh verstarb er.
- Was ist da schief gelaufen?
- Ist die Todesursache geklärt?
- Wurde eine richtige Diagnose gestellt?
- Wurde Hilfe nicht oder zu spät geleistet?
- Warum wurde Herr Nnamdi nicht ins Spital überwiesen?
2. Wird dieser tragische Vorfall untersucht?
- Durch wen?
- Werden die Mitbewohnerinnen und Mitbewohner zu den Vorgängen befragt und können sie, ohne Angst vor Konsequen- zen für ihr Asylgesuch, aussagen?
3. Welche Massnahmen will die Regierung ergreifen, damit sich solche tragischen Ereignisse nicht wiederholen?
Schon am Donnerstag weichen die St. Galler Behörden aus, wenn sie nach der Grundlage für ihre Aussage zum Drogentod gefragt werden. Die Quelle ist nicht mehr eruierbar. Der zuständige Untersuchungsrichter bestätigt, dass er die Vorwürfe sehr ernst nehmen werde. Er muss jedoch den Bericht der Autopsie mit definitiver Todesursache abwarten. So macht sich ein weiterer Todesfall auf den Weg durch die unfruchtbaren juristischen Mühlen.
Bereits im letzten augenauf-Bulletin haben wir vor den Folgen der mangelnden medizinischen Versorgung in den Asylunterkünften gewarnt. Der Tod von Osuigwe Christian Kenechukwu deutet an, worauf wir uns mit dem neuen Ausländergesetz und der Streichung der Fürsorgeleistungen für Asylsuchende vorzubereiten haben.
augenauf Zürich

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