Bulletin Nr. 21; Januar 1998

Ausschaffungsgefangene als Geiseln

Der Bundesrat hat entschieden: Kein Ausschaffungsstopp nach Algerien. Jungen Männern sei es zuzumuten, dass sie auf der Flucht vor der Gewalt im Landesinnern umherziehen. Algerien sei ja schliesslich gross genug. Zu wichtig sind die wirtschaftlichen Interessen des Westens an den algerischen Rohstoffen, zu wichtig die strategische Bedeutung Algeriens, als dass Menschenrechte von Belang wären. Zu fest ist das Banken- und Dienstleistungszentrum Schweiz in die europäische Flüchtlingspolitik eingebunden.
Oder mit den Worten des Bundesrates: Wenn die Schweiz einseitig einen Rückführungsstopp beschliesst, könnte sie für algerische Asylsuchende überdurchschnittlich attraktiv werden. Was nichts anderes bedeutet, als dass die algerischen Ausschaffungsgefangenen in Kloten II Geiseln sind, welche ihre Landsleute davon abhalten sollen, überhaupt erst in die Schweiz einzureisen: Der militärische Begriff der Dissuassionspolitik (Strategie der Abschreckung), angepasst an die neuen Feindbilder. Dass Polizisten, die Auszuschaffende bis nach Algier begleiten, am selben Tag zurückfliegen, weil sie freiwillig nicht einmal eine Nacht in Algier verbringen möchten, hebt die zynische Grundhaltung des Bundesrates noch hervor.
Unter den Ausschaffungsgefangenen nimmt angesichts ihrer ungewissen Lage die Spannung weiter zu. Der psychische Druck ihrer Beugehaft führt so weit, dass sie sich nicht mehr getrauen, Essen und Trinken anzunehmen, aus Angst, mit Schlaf- und Beruhigungsmedikamenten stillgelegt zu werden. Oder sie sehen sich gezwungen, zu körperlicher Gewalt gegen sich selber oder Dritte zu greifen, wenn sie gegen ihren ausdrücklichen Willen ausgeschafft werden sollen.
Die Rolle, welche das Gefängnispersonal dabei übernimmt, ist sehr zwiespältig. Die Gefangenen sollen sich möglichst wohl und sicher fühlen. Die von der Direktorin Ludwig erklärte Absicht ist, dass sie dann eher ruhig in den Flieger steigen. Wer sich hingegen nicht freiwillig diesem Ablauf fügt, wird entweder über einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik mit Psychopharmaka so weit ruhiggestellt, bis er sich einer Ausschaffung kaum mehr widersetzt, oder die Kantonspolizei Zürich holt sich die Leute mit unvorstellbarer Gewalt selber aus den Zellen, während das ach so verständnisvolle Gefängnispersonal wegschaut oder anderswo beschäftigt ist und sich die Hände in Unschuld wäscht.
Mit grossem Engagement setzte sich Frau Ludwig für ein Ende des Hungerstreikes «ihrer Klienten» in «ihrem Gefängnis» im November 97 ein. Wohlwissend, dass die am runden Tisch von den Vertretern der Frepo und des BFF abgegeben Erklärungen nicht mal das Papier der Medienerklärung wert waren.
Am 18.12. hätte S., einer der am Hungerstreik beteiligten Gefangenen, nach Algerien ausgeschafft werden sollen. augenauf hat darauf mit einer Presseerklärung reagiert. Die Folge war, dass am 18.12. nicht S., sondern S.A., trotz einer noch hängigen Asylbeschwerde, nach Algerien ausgeschafft wurde. Die genaue Prüfung seitens des BFF bestand darin, dass die Frepo Zürich dem BFF einen Fax schickte, ob eine Ausschaffung für den nächsten Tag zumutbar sei oder nicht. Die erste Antwort lautete, dass seitens des BFF keine Stellungnahme möglich sei, da die Akten bei der Asylrekurskommission lägen. Zwei Stunden später ging ein weiterer Fax bei der Frepo ein, die Direktion des BFF hätte nichts gegen eine Ausschaffung einzuwenden. Bis heute hat der Anwalt von S.A. nichts mehr gehört.
 
Presseerklärung vom 16.12.97
 
Algerischer Häftling im Ausschaffungsgefängnis in Lebensgefahr
augenauf fordert Ausschaffungsstopp nach Algerien

Am Donnerstag, den 18. Dezember 97, soll S., ein algerischer Ausschaffungshäftling, nach Algerien zurückgeschafft werden. Dies ist jedenfalls so in seinen Akten vermerkt, wenn ihm auch eine Vertreterin der Frepo erklärt hat, die Ausschaffung könne durchaus auch später stattfinden.
S. hat am Hungerstreik vom vergangenen Monat teilgenommen, mit dem Gefangene aus Algerien, Albanien, Kosova und Pakistan gegen die allen ständig drohende Ausschaffung protestierten. Insbesondere forderten sie einen Ausschaffungsstop in Kriegsgebiete wie Algerien und Kosova. Nach einem «Gespräch» zwischen Fremdenpolizei, Vertretern des BFF und zwei Delegationen der Hungerstreikenden erklärten die streikenden Insassen den Hungerstreik für beendet. Das «Gespräch» entpuppte sich unterdessen als reine Abwiegelungstaktik, denn einige der Hungerstreikenden sind dem Vernehmen nach bereits ausgeschafft worden, den anderen steht die Ausschaffung bevor.
S. weigert sich, nach Algerien ausgeschafft zu werden. Am 4. Oktober 97 hat er den ersten Ausschaffungsversuch verhindert, indem er sich selber verletzte. Er bekräftigt, sich weiterhin einer Ausschaffung – notfalls durch Selbstverstümmelung – zu widersetzen. Er gibt an, als Deserteur im Falle einer Ausschaffung massiv an Leib und Leben gefährdet zu sein.
Die Situation in Algerien spitzt sich in der letzten Zeit massiv zu. «Seit einigen Monaten hat die Gewalt neue, barbarische Formen angenommen: Ganze Dörfer, vor allem in der Umgebung von Algier, werden nächtens von Gruppen ausgerottet. Und immer mehr erhärtet sich der Verdacht, dass Sicherheitskräfte einen starken Teil der Massaker anrichten.»(Oliver Fahrni, Weltwoche vom 5.6.97) Dies bezeugen auch ehemalige Polizeioffiziere, die nach Grossbritannien geflüchtet sind. Sie beschuldigen das Regime, Gefangene gefoltert und exekutiert sowie Massaker an der Zivilbevölkerung begangen zu haben. Trotz diesen Tatsachen sind «laut neuestem Bundesgerichtsentscheid vom 4. November 97 Ausschaffungen nach Algerien nach wie vor zulässig. Dem Vollzug einer Wegweisung nach Algerien steht demzufolge nichts mehr im Wege.»(Bezirksgericht Zürich, Verfügung vom 9.12.97)
 
Angst vor Medikamenten im Essen
Einige algerische Ausschaffungsgefangene wehrten sich mit Selbstverletzungen gegen die Rückschaffung. Als Reaktion darauf versucht die Zürcher Kantonspolizei, die Leute unter Einsatz von Gewalt und Medikamenten auszuschaffen. So haben wir schon im Frühling öffentlich gemacht, dass Leute in Hand- und Fussschellen sowie mit einem über den Kopf gestülpten Helm ausgeschafft werden. Weigern sich die Leute weiterhin, werden sie mit Medikamenten – z.B. Nozinan – ruhiggestellt. Aus dieser Erfahrung misstraut S. dem Essen. Die Verlegung in eine Einzelzelle vor ein paar Tagen hat ihn in seiner Vermutung bestärkt, dass er über Medikamente im Essen gefügig gemacht werden soll. S. ist einem enormen Psychostress ausgesetzt, und sein Leben oder zumindest seine Gesundheit sind in akuter Gefahr. Dem allem begegnen der Gesetzgeber und seine Vollstrecker mit unheimlicher Distanz und Zynismus: Man stiehlt sich aus der Verantwortung und beruft sich darauf, «nur seine Pflicht zu tun». Die Kantons- und Fremdenpolizei und ihre Chefin Rita Fuhrer berufen sich darauf, einzig die Weisungen des Bundes auszuführen. Die vom BFF zugesagte «Einzelfallüberprüfung» von Ausschaffungen nach Algerien entpuppt sich als Farce. So erklärte eine Vertreterin der Fremdenpolizei an der Haftrichterverhandlung von S.: «Was die angeblichen Unzulänglichkeiten des Einverständnisses des Bundesamtes für Flüchtlinge betrifft, ist zu sagen, dass dieses Prozedere (Einzelfallüberprüfung) weniger mit Blick auf die Situation in Algerien als solche, als vielmehr zwecks Vermeidung allfälliger negativer Publizität eingeführt wurde.» Das BFF selbst versteckt sich hinter dem verantwortlichen Bundesrat Koller, der seinerseits wieder auf die internationale Praxis verweist und im übrigen den Vollzug der Ausschaffung den Kantonen überlässt.
Wir fordern die sofortige Sistierung der Ausschaffung von S., da wir um sein Leben und seine Gesundheit fürchten. Ausschaffungen nach Algerien sind einzustellen und algerische Ausschaffungsgefangene endlich freizulassen.


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