Bulletin Nr. 1; Februar 1995

Wie ein Opfer zum Täter gemacht wird

Heftig reagierten die Behörden von Stadt und Kanton Zürich auf die Veröffentlichung der polizeilichen Misshandlung des Libyers H.L. durch die Gruppe augenauf. Zürichs Polizeivorstand Robert Neukomm sprach von «bewusster Desinformation». Der Kommandant der Kantonspolizei, Eugen Thomann, vermutete gar, dass die Gruppe augenauf die «Öffentlichkeit bewusst hinters Licht führen» wolle. In der Medienverlautbarung der Kantonspolizei vom 9. Februar heisst es zum Vorfall, dass sich ««mutmasslicher Dealer und Polizeibeamte im Laufe einer Konfrontation Verletzungen» zugezogen hätten. Die Polizei, so Robert Neukomm zur DAZ, habe «von sich aus schon vor der Einreichung der Strafanklage eine Untersuchung des Falles beantragt». Diese Anwürfe machen einige Klarstellungen notwendig.
Unklar ist zur Zeit, ob H.L. in der Nacht vom 1. auf den 2. Februar nach den ersten Misshandlungen auf dem Lettenareal in die Polizeikaserne gebracht worden ist. In der Medienverlautbarung der Kantonspolizei heisst es dazu, das der «nachmals verletzte Mann nie in die Obhut der Kantonspolizei Zürich» gelangt sei und sich «zu keiner Zeit in einem unserer (Hervorhebung augenauf) Polizeigefängnisse» aufgehalten habe. Es ist in der Tat denkbar, das H.L. nach der Verhaftung auf die Betäubungsmittelwache der Stadtpolizei gebracht worden ist und er in der ‚Urania' - und nicht im Polizeigefängnis Kaserne - ein zweites Mal misshandelt worden ist. Sowohl die behandelnden Ärzte im Universitätsspital, als auch ein dem Anwalt Marcel Bosonnet am 2. Februar in der Uniklinik ausgehändigtes Dokument sprachen jedoch von einer Überführung des Patienten aus der Kaserne. Auch das Opfer gibt an, vom Letten in die Kaserne gebracht worden zu sein. Eine Verwechslung ist angesichts des Zustandes, in dem sich H.L. damals befand, nicht ausgeschlossen. Von bewusster Desinformation kann keine Rede sein.
Unbestritten ist hingegen der Zustand, in dem H.L. ins Spital eingeliefert wurde. Im ärztlichen Befund wurden Schläge beidseits auf Thorax und beidseits im Gesicht festgestellt, links und rechts waren Rippen gebrochen, offene Hautverletzungen im Brustbereich, Verletzungen am linken und rechten Unterschenkel und am Knie und ein Hämatom über dem Jochbein wurden festgestellt. Der anfängliche Verdacht, das auch der Kiefer des Patienten gebrochen sei, erhärtete sich glücklicherweise nicht. H.L. lag vom Donnerstag, dem 2. Februar bis Samstag, dem 4. Februar auf der Intensivstation des Zürcher Unispitals. Am Freitag, dem 10. Februar konnte er das Spital verlassen.
Laut den aussagen von H.L. wurden ihm diese Verletzungen wie folgt zugefügt. Bei der Verhaftung durch Zivilpolizisten auf dem Lettenareal sei er von einem Beamten so stark ins Gesicht geschlagen worden, das er zu Boden fiel. Nachdem ihm Handschellen angezogen worden waren, sei er von einem Beamten an den Füssen gepackt und rund 200 Meter über den Boden geschleift worden. Verschiedene Beamte hätten ihn dabei mit den Füssen gegen die Rippen getreten. Ein Fusstritt habe ihn am Hals getroffen und ein Beamter sei ihm auf die Brust gesprungen. Nach der Überführung auf den Polizeiposten sei er in eine Zelle geführt und dort derart massiv ins Gesicht geschlagen worden, dass alles blutig geworden sei und er später im Spital seinen Namen nicht habe aussprechen können.
Die Polizeibehörden von Stadt und Kanton Zürich behaupteten am 7. und am 9. Februar, dass «im Laufe der Konfrontation» zwei Beamte ebenfalls verletzt worden seien. Beide hätten arbeitsunfähig geschrieben werden müssen. Am 10. Februar präzisierte der Pressesprecher der Stadtpolizei, Bruno Kistler, dass ihm nur der Fall eines verletzen Polizisten bekannt sei. Über die Art der Verletzung wollte Kistler keine Auskunft geben. Fest steht jedoch, dass der Schwer misshandelte Libyer H.L. bis heute noch nie wegen einer angeblichen Körperverletzung von Polizeibeamten befragt worden ist.
Laut Auskunft von Bruno Kistler habe die Stadtpolizei bereits am 2. Februar - vor der Einreichung der Strafklage durch den Anwalt des Opfers am Morgen des 3. Februar - eine Untersuchung der Vorfälle eingeleitet. Eine entsprechende Dienstanweisung der Stadtpolizei schriebe dieses Vorgehen bei Verletzungen zwingend vor. Wenn dies zutreffen würde, wäre kaum nachvollziehbar, warum der zuständige Bezirksanwalt noch am Abend des 6. Februar vom Fall keine Kenntnis hatte. Unklar wäre auch, warum die Polizei erst nach der Pressekonferenz der Gruppe augenauf die Öffentlichkeit informiert hat.
Mit der penetranten Charakterisierung des Opfers H.L. als mutmasslichen Drogenhändler versuchen die Behörden, den misshandelten Libyer ein schlechtes Licht zu bringen. Ganz abgesehen von der Frage, dass die Behörden damit die Misshandlung von Dealern als ein entschuldbares Verhalten darstellen wollen, wäre es in diesem Zusammenhang doch interessant zu erfahren, warum gegen H.L. kein Strafverfahren läuft. H.L. war nie in Untersuchungshaft und wurde im Spital nie von der Polizei bewacht. Ihm wurden im Spital sogar die ihm bei der Verhaftung abgenommenen 55 Franken wieder ausgehändigt. H.L. gibt an, in der offenen Drogenszene schon vielfach Getränke und Sandwiches verkauft zu haben. Am Abend des 1. Februars sei er alkoholisiert gewesen und ohne konkreten Grund auf das Lettenareal gegangen.
Soweit die zur Zeit vorliegenden Fakten, aufgrund derer wir die schweren Vorwürfe an die Zürcher Polizeibehörden aufrecht erhalten. Ob H.L. auf der Hauptwache der Urania oder im Polizeigefängnis Kaserne misshandelt wurde, ist für die Eruierung der Täter sicher von Bedeutung. Es gibt jedoch im Moment keinen Grund daran zu zweifeln, dass dem wehrlosen Opfer H.L. die scheren Verletzungen in Polizeigewahrsam zugefügt worden sind.
Diesen Verdacht hält im übrigen auch die Bezirksanwaltschaft für gegeben. Sie hat nämlich dem Gesuch des Anwalts Marcel Bosonnet, dass auf eine Ausschaffung von H.L. bis zum Abschluss der Untersuchung zu verzichten sei, stattgegeben. Dem Opfer wurde ein Formular ausgehändigt, auf dem die Nummer eines hohen Polizeibeamten und des zuständigen Bezirksanwalts festgehalten ist. Bei Problemen mit den Behörden, so wurde ihm mitgeteilt, solle er dieses Formular vorweisen.

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