Bulletin Nr. 46; September 2005

Leben in Schweizer Asylstrukturen: Resultate einer Studie

Willkür und Gewalt statt Hilfe

In den letzten Monaten hat augenauf Zürich einen konzentrierten Effort geleistet, um ein besseres Bild von den Zuständen in den Betreuungsstrukturen für Asylsuchende und Nothilfebedürftige zu erhalten. Die beunruhigenden Ergebnisse liegen nun vor


Gewaltvorfälle
Schon vor Beginn unserer Studie wurden verschiedene Gewaltvorfälle bekannt. Da waren die tödlichen Stürze von Asylbewerbern aus Wohnheimen in Basel und aus dem Durchgangszentrum in Unterägeri und die diversen Fälle, die aus der Empfangsstelle Kreuzlingen gemeldet wurden. Eine breite Umfrage, welche die gesamte Deutschschweiz umfasste, deckte keine weiteren aktuellen Fälle solch gravierender Art auf. Wir gehen davon aus, dass fast immer Betroffene, deren Communities oder andere Solidaritätsstrukturen solche Vorkommnisse melden, es also schwierig ist, einen Gesamtüberblick zu bekommen.
Die Vorfälle in der Empfangsstelle Kreuzlingen werden weiter unten behandelt. Im Falle des tödlichen Sturzes in Unterägeri sind die Ermittlungen noch im Gang. Augenzeugen berichten, dass das Opfer von einem Angestellten der Securitas während einer der regelmässigen Kontrollen im Asylheim aus dem Fenster gestossen wurde. Ob diese Zeugenaussagen jedoch in den Ermittlungen und danach vor Gericht standhalten werden, ist noch offen. Weiter bestehen Unklarheiten über den Zeitpunkt des Notrufes an die Sanität und das konkrete Vorgehen der mit der Sanität eintreffenden Polizei. Die diesbezüglichen Aussagen sind widersprüchlich.
Die Fensterstürze in Basel fanden beide im Zusammenhang mit Polizeikontrollen statt. In Panik sprangen die Männer aus den Fenstern und starben (siehe Bulletin Nr. 45).

Medizinische Versorgung
Die Studie zeigt, dass der Zugang zu medizinischen Leistungen für Asylsuchende in den kantonalen Durchgangszentren (DZ) zuweilen nicht ganz einfach ist und es viel Hartnäckigkeit braucht, manche Leitungspersonen oder BetreuerInnen davon zu überzeugen, dass ein Arztbesuch tatsächlich notwendig ist. In Einzelfällen knüpften Zentren die Einwilligung zu einem Arztbesuch an Bedingungen. Ein Durchgangszentrum im Kanton Appenzell machte offenbar das Putzen zu einer Vorbedingung. Beispiele aus mehreren Kantonen zeigen: Wo eine notwendige medizinische Abklärung von der DZ-Leitung verweigert wurde, bewirkte die Intervention von im Asylbereich engagierten Personen oder Rechtsberatungsstellen, dass der Zugang zu den betreffenden medizinischen Leistungen schliesslich doch noch gewährt wurde.
Überweisungen an SpezialärztInnen, die vormals über Monate verschlampt wurden, erfolgten auf einmal äusserst speditiv. Die Notwendigkeit der Intervention Dritter ist angesichts der vielen Menschen, die nicht wissen, wo sie ausserhalb der betreuten Strukturen Rat und Hilfe erbeten können und deswegen nicht zu den benötigten Leistungen gelangen, äusserst stossend.
Für Personen mit einem Nichteintretensentscheid (NEE) gestaltet sich die Sachlage strukturell anders als für Asylsuchende. Personen mit NEE gehören nicht mehr zum Asylbereich und werden deshalb – anders als Asylsuchende – von der Krankenversicherung ausgeschlossen. Die Nothilfe, die sie erhalten, beinhaltet nur das absolute, durch die Verfassung garantierte Minimum, das eine Person in der Schweiz zum Überleben braucht. Also ein Dach über dem Kopf, gebrauchte Kleider, Essen und medizinische Notfallhilfe. Notfallhilfe beschränkt sich auf ein Eingreifen in Notfällen, das heisst, nur wenn jemand äusserlich sichtbar ernsthaft krank oder verletzt ist, so dass einfache Mittel wie Aspirin, Desinfektionsmittel und Verbandszeug nicht mehr ausreichen, kann er oder sie zu einem Arzt gehen. Medikamentenabgabe gehört in den NEE-Zentren zwar zum Alltag, allerdings werden immer dieselben Medikamente für fast jedes Leiden abgegeben (Aspirin oder ähnliches) – bei grösserem Leidensdruck einfach eine höhere Dosis, wie zum Beispiel in der NEE-Unterkunft Adliswil. Viele Personen mit NEE-Status sind deshalb frustriert und fühlen sich nicht ernst genommen – oft würden sie gar nicht mehr um einen Arzttermin bitten, sondern ihre Krankheiten einfach ausstehen oder, wenn sie ihre Schmerzen nicht mehr aushielten, alles daran setzen, in Eigeninitiative zu einem Arzt zu kommen. Mit dieser Pflästerlipolitik anstelle einer Symptomabklärung besteht bei NEE-Personen in Fällen einer ernsthaften Erkrankung ein grosses Risiko, dass die Zentrumsleitung zu lange zuwartet. Das macht eine erfolgreiche Behandlung der Krankheit oder Verletzung nicht nur schwieriger, sie kommt den Kanton schliesslich auch viel teurer zu stehen.
Generell ist die Tatsache, dass nicht medizinisch geschultes Personal über die (Nicht-)Behandlung der anvertrauten Leute entscheidet, ein latenter Risikofaktor. Das System wird zwangsläufig immer wieder zu vermeidbaren schweren Krankheiten und Todesfällen führen.

Sanktionen
Geld- bzw. Gutscheinkürzungen gibt es unter anderem bei der Weigerung, das «Putzämtli» auszuführen, bei Zuspätkommen (z. B. für die Gutscheinverteilung) sowie bei anderen Verstössen gegen die Hausordnung, bei denen nicht gleich ein Zentrumsverbot verhängt wird. Je nach «Schweregrad» wird mehr oder weniger des wöchentlich ausgezahlten Bargelds oder der Gutscheine zurückgehalten. Insbesondere in NEE-Zentren führt das zu prekären Situationen; das absolute Minimum von 55 Franken pro Woche weiter zu kürzen, ist unzumutbar. Als Reaktion auf Frechsein, verbale Auseinandersetzungen etc. kommt es jedoch nicht nur zu Gutscheinkürzungen. In der NEE-Unterkunft Adliswil wird in solchen Fällen gleich die Polizei geholt.
Zentrumsverbote (ZV) werden bei bestimmten Verstössen gegen die Hausordnung verhängt, so etwa bei Alkoholkonsum oder bei Besuch in den Schlafräumen (mit Ausnahme der Durchgangszentren). Ein ZV wird in der Regel für zwei Wochen verhängt; während dieser Zeit darf der oder die Betroffene sich nicht mehr im entsprechenden Zentrum aufhalten. Kommt die betroffene Person trotz Zentrumsverbots wieder ins Zentrum, wird das als Hausfriedensbruch gewertet und die Leitung kann die Polizei informieren.
Die Problematik solcher Zentrumsverbote besteht hauptsächlich in der damit zusammenhängenden frappanten Unklarheit, die wiederholt auch zu Willkür führt. Basis für Zentrums- und Hausverbote bildet das Asylgesetz, wo ein Paragraf auch eine Entschädigung von Fr. 14.50 pro Tag für die Dauer des Verbotes vorschreibt. Dies gilt allerdings nur für den Asylbereich und nicht für Personen mit einem NEE, die heute hauptsächlich davon betroffen sind.
Ein ZV ist eine Verfügung und muss deshalb schriftlich abgegeben werden – mit einer Rechtsmittelbelehrung, die Einsprache ermöglicht –, und die von der Leitung signiert sowie vom Empfänger bzw. der Empfängerin gegengezeichnet ist. Die Art und Weise, wie ein ZV übermittelt wird, ist also verwaltungsrechtlich geregelt. Diese Regeln werden zuweilen nicht eingehalten; besonders stossend ist ein uns bekannter – allerdings bereits älterer – Fall, wo ein Minimalzentrum ein ZV verhängte, ohne dass der Betroffene dies erfuhr (entweder man hatte es ihm gar nicht oder dann so schlecht kommuniziert, dass er es nicht verstand), worauf dieser ahnungslos ins Zentrum zurückkehrte und dort wegen Hausfriedensbruches sogleich von der Polizei mitgenommen wurde. Unklarheit herrscht auch über verschiedene allfällige Ausnahmen – im selben Minimalzentrum wurde demselben Asylsuchenden während eines anderen Zentrumsverbots von einer Betreuungsperson erlaubt, sich trotzdem im Zentrum zu duschen und die Kleider zu wechseln. Die Leitung wollte aber nichts von dieser Ausnahme wissen und zeigte den Mann wegen Hausfriedensbruchs an. Leider herrscht bezüglich der Grundlagen für die Erteilung eines Zentrumsverbotes sowie bezüglich der geltenden Bedingungen bei ZV eine derart grosse Unklarheit, dass es sehr schwierig ist, etwas gegen Willkür und ungenügende Transparenz zu unternehmen.

Empfangsstelle Kreuzlingen
Klagen über die Zustände in Kreuzlingen werden seit Jahren immer wieder von verschiedenen Seiten laut, im Frühjahr 2005 wurden einige Fälle schwerer Gewaltanwendung bekannt. Allein von Januar bis Mai dieses Jahres sind aus der Empfangsstelle Kreuzlingen nach Angaben von Opfern oder Personen, die mit diesen Opfern gesprochen haben, fünf Gewaltvorfälle bekannt. Die Schilderungen verschiedener Personen decken sich punkto Nationalität der Opfer, ungefährem Zeitpunkt und Umständen der Vorfälle.

Chronologie der Ereignisse
Januar 2005: Zwei algerische Asylsuchende werden in einem Nichtraucherbereich der ES beim Rauchen erwischt. Sie versuchen, den Securitas-Angestellten zu entkommen und rennen in den Hof, wo sie von Letzteren abgefangen und verprügelt werden. Dies ist die Darstellung der betroffenen Algerier. Die Version von Marc Elsässer, Leiter der ES Kreuzlingen: Die zwei Männer hätten bei der Flucht vor der Securitas versucht, die Mauer der ES hochzuklettern, seien dabei runtergestürzt und hätten sich so ihre Verletzungen zugezogen. Kennt man jedoch die baulichen Verhältnisse des Zentrums, ist dies nur schwer vorstellbar: Die Mauern der ES sind spiegelglatt und es ist schlicht nicht möglich, dort auch nur einen Meter hochzuklettern und folglich ebensowenig, von dieser Mauer herunterzufallen.
Februar 2005: Ein somalischer Mann erleidet bei einer Auseinandersetzung mit einem Securitas-Angestellten einen mehrfachen Oberarmbruch. Dieser Fall wird durch einen Rundschau-Beitrag (SF DRS) weitherum bekannt, ein Strafverfahren ist noch hängig.
März 2005: Zwei tamilische Asylsuchende im Hungerstreik weigern sich zu arbeiten. Es kommt zu einer tätlichen Auseinandersetzung mit den Securitas-Angestellten. Die Tamilen werden geschlagen.
April 2005: Ein Kurde aus der Türkei wird aus unbekannten Gründen unsanft aus dem Gebäude in den Hof der Empfangsstelle verbracht, wobei er mit dem Kopf heftig gegen die Wand des Glashauses schlägt. Er klagte danach über Kopfschmerzen. Gemäss Aussagen des Seelsorgers sind aber äusserlich keine Verletzungen erkennbar. Mai 2005: Wahrscheinlich im Monat Mai wird ein Mann – entweder russischer Nationalität oder aus einem anderen GUS-Land stammend, sein Name ist uns bekannt – aus unbekannten Gründen von Securitas-Angestellten zusammengeschlagen. Amnesty International hat diesen Fall recherchiert und in ihrem Bericht dokumentiert. Dieser Gewaltvorfall ist als einziger dem zitierten Seelsorger nur vom Hörensagen bekannt. In den vier anderen Fällen stammen seine Informationen aus erster Hand, also von den Opfern selbst.

Die beunruhigenden Ergebnisse der Studie zeigen: Die Zustände in den Betreuungsstrukturen für Asylsuchende sind menschenunwürdig. Willkür und behördliche Gewalt gehören schon fast zum Alltag. Es ist höchste Zeit, diesem Treiben Einhalt zu gebieten.


augenauf Zürich

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