Bulletin Nr. 45; Juni 2005
Persönliche Freiheit wird zunehmend auf dem Altar der SicherheitsfanatikerInnen geopfert
Wegweisung à discrétion
«Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere
auf [...] Bewegungsfreiheit.» So steht es in Artikel 10
der Bundesverfassung geschrieben. Dass dies für Asylsuchende,
insbesondere für Menschen mit Nichteintretensentscheid
nicht gilt, ist tägliche Praxis; Ein- und Ausgrenzungen
gemäss Ausländerrecht haben Hochkonjunktur.
Im Rahmen der zunehmenden Sicherheitshysterie streben
repressiv orientierte Polizeifunktionäre und ihre politischen
Hinterleute vermehrt nach zusätzlichen Machtbefugnissen.
Ganz oben auf dem Wunschzettel stehen Rechtsmittel, die es
ermöglichen, unliebsame Personen zu verbannen, ohne dass
sich diese einer Straftat schuldig gemacht haben. Als Begründung
reicht der Verdacht, die Betroffenen könnten eventuell
Sicherheit und Ordnung stören. Fürwahr, eine Meister-Proper-
Präventions-Keule im täglichen Kampf gegen Junkies,
Alkis, Punks und sonstige im sauberen Stadtbild herumlungernde
Gestalten.
Für den Kanton Bern ging dieser Wunsch am 8. Juni 1997
in Erfüllung, als die StimmbürgerInnen Artikel 29b ins Polizeigesetz
aufnahmen:
«Die Polizei kann Personen von einem Ort vorübergehend
wegweisen oder fernhalten, sofern [...] der begründete Verdacht
besteht, dass sie oder andere, die der gleichen Ansammlung
zuzurechnen sind, die öffentliche Sicherheit und
Ordnung gefährden oder stören». An das Abstimmungsdatum
erinnert jedes Jahr der «Anti-Repressionstag».
Teurer und unsinniger Leerlauf in Bern
Dass ein derart schwammiger Gesetzestext in der Praxis die
Legalisierung der Willkür bedeutet, wurde in Bern bald einmal
augenfällig. Die Polizei lebte ihre neuen Befugnisse exzessiv
aus und der wacker geschwungene Zweihänder traf nebst den
in der Abstimmungspropaganda aufgelisteten Zielgruppen
unter anderem auch SozialarbeiterInnen, kirchliche Betreuer-
Innen und sogar harmlose Pilzsammler, deren Auffälligkeit in
waldbodenbeschmutzten Stiefeln bestand.
Die undifferenzierte und flächendeckende Wegweisungspraxis
führte bald einmal zu Proteststürmen und einer
Klagenflut. Mehrere Gerichtsurteile der letzten Jahre grenzten
den polizeilichen Freiraum wieder etwas ein. So müssen die
Verfügungen heute differenzierter begründet werden und die
maximale Dauer einer Wegweisung wurde von zwölf auf drei
Monate reduziert. Auch wenn die polizeiliche Euphorie inzwischen
etwas nachgelassen hat, so wurden 2004 immerhin
noch 560 Wegweisungen verfügt sowie 1035 Anzeigen gegen
Randständige, welche sich nicht vertreiben liessen, erstattet.
Da Letztere ohnehin kein Geld für die Bezahlung der Bussen
haben, müssen sie ihre Strafen letztendlich absitzen. Unter
dem Strich ein teurer und unsinniger Leerlauf.
Selbst im bürgerlichen Lager fällt die Bilanz zu acht Jahren
Wegweisungsartikel ernüchternd aus. In Zukunft soll wieder
vermehrt auf soziale Intervention gesetzt werden.
Seit September 2004 ist auch in Winterthur eine revidierte
Polizeiverordnung in Kraft, deren Artikel 16.1 eine exakte
Kopie des Berner Wegweisungsvorbilds ist. Hier diente er
bisher primär zur präventiven Verhinderung einer Demonstration
gegen die SVP.
In Zürich hat der Stadtrat bisher dem Drängen repressiver
OrdnungspolitikerInnen nicht nachgegeben; vor kurzem stellte
er eine entsprechende Vorlage zum zweiten Mal zurück. Da
sich Polizeivorsteherin Esther Maurer vor den Wahlen (2006)
wohl kaum mit ihren SP-GenossInnen anlegen möchte, dürfte
das Thema noch für einige Zeit eingemottet bleiben.
St. Gallen kriegt De-Luxe-Variante
Nahezu pünktlich zum Anti-Repressionstag fand am 5. Juni in
St. Gallen die Abstimmung über das revidierte Polizeireglement
statt. Die Änderungen haben es in sich: Nebst dem
Wegweisungsartikel nach Berner Vorbild enthält das Paket
noch ein Vermummungsverbot, eine vereinfachte Verfolgung
von «wildem Plakatieren», indem dieses zum Offizialdelikt
erklärt wird, sowie eine Ausweitung der Videoüberwachung.
Diese soll künftig eine Personenidentifikation ermöglichen.
Damit es sich auch lohnt, wird die Aufbewahrungsdauer für
die Aufzeichnungen auf 100 Tage erweitert (der Datenschutzbeauftragte
empfahl 24 Stunden).
Die Abstimmungsdebatte war einmal mehr ein demagogisches
Lehrstück: die bürgerliche Befürworter-Lobby prophezeite
für den Fall der Ablehnung den Untergang von Stadt
und Kultur und untermauerte dies ausschliesslich mit Verrohungsbeispielen,
welche bereits mit der bestehenden
Gesetzgebung komfortabel geahndet werden könnten. Negative
Erfahrungen aus Bern wurden unter den Tisch gekehrt
und als sich die Monopolzeitung «Tagblatt» in einem Artikel
erdreistete, eine ungeschönte Bilanz der acht Jahre Wegweisungspraxis
in Bern zu ziehen, wurde sie sogleich des Hochverrats
bezichtigt.
Die St. Galler Stimmberechtigten haben in ihrem grenzenlosen
Vertrauen zur Polizei dem neuen Reglement mit nahezu
66 Prozent zugestimmt. Sollten die Behörden die neuen
Befugnisse konsequent anwenden, so dürfte bald eine neue
Diskussion anstehen: die Erhöhung des Polizeibestandes und
-etats.
augenauf Basel
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