Bulletin Nr. 40; Dezember 2003

Entscheid über die Razzien in den Flüchtlingsunterkünften im Kanton Glarus

Illegal ja, strafbar nein

Der Entscheid des Untersuchungsrichters zu den Razzien in den Asylbewerberheimen im Kanton Glarus ist überraschend: Obwohl er die Ungesetzlichkeit des polizeilichen Vorgehens feststellt, wird das Strafverfahren eingestellt. Die Justiz bleibt weiterhin blind, wenn es um Rassismus und Taten der Polizei geht.
Eines muss man dem ausserordentlichen Untersuchungsrichter Christian Bötschi lassen: Er war schneller als alle bisherigen Untersuchungsbeamten. Der Staatsanwalt aus Appenzell Ausserrhoden hat das Vorgehen der Glarner Kantonspolizei untersucht. Nach nur vier Monaten hat er die Untersuchung abgeschlossen. Sein Entscheid spricht für Schweizer Verhältnisse eine ungewohnt deutliche Sprache. Das Vorgehen der Beamten war objektiv illegal. Die Begründungen, warum trotzdem niemand strafbar ist, dient als Lehrstück in Sachen Straffreiheit für Polizisten und Rassismus.
 
Objektive Tatbestände
Die Untersuchungen haben ergeben, dass die Vorwürfe der Betroffenen und von augenauf fast vollständig berechtigt waren (siehe Kasten «Die Vorgeschichte»). Nur in einem Punkt lagen wir völlig daneben: Mit dem Verdacht, es könnte sich bei dieser Aktion um eine Übung gehandelt haben. Die Realität ist schlimmer - für die Polizei war das Vorgehen nichts Besonderes, sondern «normal». Durch diese Tatsachen kommt das vernichtende Urteil zu Stande: «Die objektiven Tatbestandsvoraussetzungen des Amtsmissbrauchs und der Freiheitsberaubung sind erfüllt.» Weiter wird im Entscheid klar festgehalten, dass die Razzien ein Schlag ins Wasser waren: «Die Hausdurchsuchungen ergaben keine nennenswerten Ergebnisse.» Auch zum Zukleben des Mundes finden sich klare Worte: «In Anbetracht der Tatsache, dass den Betroffenen zudem die Augen verdeckt waren und dass das Verkleben des Mundes unter Umständen zu schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen, im Extremfall sogar zum Tod führen kann, muss diese Massnahme in der Art und Weise, wie sie durchgeführt wurde, nicht nur als unverhältnismässig, sondern als unzulässig bezeichnet werden.» Diese deutlichen Worte sind ein Erfolg. Nur mit etlichen Purzelbäumen ist es möglich, die Polizisten dennoch nicht zu bestrafen.
 
Subjektive Tatbestände
Der formaljuristische Hauptgrund für die Einstellung der Verfahren: Amtsmissbrauch und Freiheitsberaubung sind so genannte Vorsatzdelikte. Es muss nebst den objektiven Tatbeständen auch subjektiv ein Vorsatz oder ein Eventualvorsatz vorliegen. Dies wird den verantwortlichen Polizeioffizieren abgesprochen. Es wollte niemand etwas Böses tun, also ist auch niemand schuldig. Das Problem wird ausserhalb irgendeiner Verantwortlichkeit geortet: Mangelnde Schulung, mangelnde Routine, zu wenig klare Dienstanweisungen. Wieder einmal wird die Polizei dadurch gerettet, dass sie so schlecht arbeiten kann, wie sie will. Auch Kenntnis von Gesetzen ist offensichtlich nicht Voraussetzung für die Ausübung dieses Berufs: Strafprozessordnung, Strafgesetzbuch, Europäische Menschenrechtskonvention scheinen nicht zu den Pflichtfähern zu gehören.
 
Indirekte Schuld des Kripochefs
Mindestens an der Frage, wer die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, ist zu erkennen, dass der verantwortliche Chef der Glarner Kriminalpolizei, Daniel Anrig, eine gewisse Verantwortung trägt: Er muss Fr. 400.- an die Verfahrenskosten und die Hälfte des Honorars für den Anwalt der Betroffenen zahlen. Dass die Opfer dennoch Fr. 2800.- für ihren Anwalt bezahlen müssten, zeigt ein weiteres Problem dieses Justizsystems. In diesem Zusammenhang wären wir natürlich wieder sehr dankbar für entsprechende Spenden.
 
Forderungen der Betroffenen
Was bisher in diesem Verfahren nicht zur Sprache kam, aber für die Betroffenen ein zentraler Punkt ist: Mit diesem Überfall und den Hausdurchsuchungen wurden sie generell als Kriminelle abgestempelt, was sie im Umgang mit den Einheimischen auch deutlich zu spüren bekommen. Wir fordern deshalb eine öffentliche Entschuldigung und die Rehabilitierung der Asylbewerber durch die Glarner Kantonsregierung. augenauf Zürich
 
 
Die Vorgeschichte
Am 3. Juli stürmte eine Sondereinheit der Glarner Polizei zwei Durchgangszentren und zwei Wohnungen von Asylsuchenden. Die Bewohner wurden an Händen und Füssen gefesselt, ihnen wurden Säcke über die Köpfe gestülpt, und teilweise wurden sie nackt fotografiert. Keinem der Betroffenen war bewusst, dass ihre Peiniger Polizeibeamte waren. Kaum bekleidet, weiterhin an Händen und Füssen gefesselt und mit dem Sack über dem Kopf wurden sie sechs Stunden festgehalten. Einigen Flüchtlingen wurde mit einem Klebeband der Mund zugeklebt, damit sie nicht sprechen konnten. Auf die von augenauf erhobenen Vorwürfen wegen Menschenrechtsverletzungen und Folter reagierte die Glarner Polizei mit Lügen: Sie habe Deliktsgut beschlagnahmt und das rechtfertige ihr Vorgehen. Auch wenn dies keine Rechtfertigung wäre - es entsprach nicht einmal der Wahrheit. Weiter hat die Polizei behauptet, dass sie das immer so mache. Auch davon ist nicht mehr die Rede. Auf Druck der Medienkampagne hat sich die Polizei im August selbst angezeigt, vier Betroffene haben mit unserer Unterstützung ebenfalls Anzeige eingereicht. (s. Bulletin Nr. 39)


 
 
Systematische Unwissenheit der Polizei
- 1997: Der Bericht des europäischen Komitees zur Verhinderung von Folter sagt: «Weiter muss betont werden, dass das Knebeln einer Person eine sehr gefährliche Massnahme ist.» - 1998: Auszug aus einem Dienstbefehl der Kantonspolizei Zürich: «Geknebelte Personen sind dauernd (Hervorhebung im Original) zu überwachen, und ihr Zustand muss regelmässig überprüft werden.» - 3. März 1999: Khaled Abuzarifa stirbt, weil ihm der Mund mit Klebeband zugeklebt wurde. - 2000: Der Bericht von Amnesty International warnt vor allen Methoden, welche die Atemwege blockieren. - 1. Mai 2001: Samson Chukwu stirbt in den Händen der Polizei an einer lagebedingten Erstickung. Das folgende Untersuchungsverfahren zeigt: Weder Polizeiinstruktoren noch Polizeischulen haben schon von dieser Gefahr gehört. - April 2002: Die KKJPD (Konferenz der Kantonalen Justiz- und PolizeidirektorInnen) erlässt Richtlinien für Ausschaffungen: «Die Atmung zurückzuführender Person darf nie und in keiner Weise behindert werden.» - Juli 2003: Die Glarner Kantonspolizei stellt das Verkleben des Mundes als «normale polizeiliche Massnahme» dar. - Dezember 2003: Verfahrenseinstellung im Glarner Fall: Die mehrfach erfolgte Gefährdung des Lebens wird nicht geahndet. Es wird ein Ausbildungsdefizit geortet.


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